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Blog 4: März 2022

Niederlassungsfreiheit

In diesem Beitrag wird in fünf Stationen die Entwicklung der Niederlassungsfreiheit in der Schweiz durchleuchtet. Die fünf Stationen zeigen die Hintergründe, die wiederholt aufkommenden Widerstände, die Rolle Frankreichs bei der Überwindung und Entwicklung zur heutigen Rechtslage. Die fünf Stationen sollen einen kurzen Einblick ermöglichen.

 

Die Niederlassungsfreiheit in der Schweiz– die aktuelle Rechtslage 

Die geltende Bundesverfassung [1] vom 18. April 1999 hält in ihrem zweiten Titel "Grundrechte, Bürgerrecht, Sozialziele" im ersten Kapitel "Grundrechte" fest:

Art. 24 Niederlassungsfreiheit 
1 Schweizerinnen und Schweizer haben das Recht, sich an jedem Ort des Landes niederzulassen.
2 Sie haben das Recht, die Schweiz zu verlassen oder in die Schweiz einzureisen.

Die in dieser Bestimmung festgelegte Niederlassungsfreiheit gehört nach der heutigen Rechtsauffassung aufgrund ihrer systematischen Stellung in der Verfassung zu den Grundrechten jedes Schweizers. Nach Art. 36 der Bundesverfassung bedürfen Einschränkungen von Grundrechten einer gesetzlichen Grundlage, müssen durch ein öffentliches Interesse oder den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt und verhältnismässig sein. Ihr Kerngehalt darf nicht angetastet werden.

Im Folgenden soll an fünf Stationen ein Blick auf die Entwicklung der Niederlassungsfreiheit geworfen werden. 

 

Die erste Station – historische Entwicklung vor Gründung des Bundesstaates

Das historische Lexikon der Schweiz fasst die Entwicklungen um die Niederlassungsfreiheit in der Zeit vor dem Zusammenbruch der alten Eidgenossenschaft (1798), über die Zeit der Helvetischen Republik (1798-1803), die Mediationszeit (1803-1815) und die Restaurationszeit (1815-1848) zusammen. Der Beitrag ist on-line ohne besondere Hürden jederzeit einsehbar:

"Im Ancien Régime bestand kein Recht auf freie Niederlassung. Das Wohnrecht in einer Gemeinde unterstand der Bewilligung durch die Obrigkeit (Abzugsrecht). Das Niederlassungsrecht und die Ausübung der politischen Rechte waren im Allgemeinen ein ererbtes Privileg, das den Nachkommen der alteingesessenen Einwohner vorbehalten war (Bürgerrecht). Das Niederlassungsrecht konnte auch erworben werden, doch im 17. und 18. Jahrhundert begrenzten die Gemeinden die Aufnahme neuer Bürger und erhöhten die Zutrittsschranken. Besonders in Städten und grösseren Gemeinden bildeten sich so verschiedene Klassen von Bürgern (Hintersassen) heraus. (…) Die Helvetische Verfassung von 1798 anerkannte die Abschaffung jeglicher Ungleichheit der Geburt (Artikel 8) und führte die schweizerische Staatsbürgerschaft ein (Artikel 19). Die Niederlassungsfreiheit wurde so mit Ausnahme der Juden allen volljährigen Schweizer Bürgern zugestanden. Die Mediationsakte von 1803 hob die Errungenschaften von 1798 zu einem guten Teil wieder auf. Die Niederlassungsfreiheit fiel erneut in die Kompetenz der Kantone, die oft zu den alten Einschränkungen und Unterscheidungen zwischen Vollbürgern und Hintersassen zurückkehrten.

Nach 1815 wurden die im Ancien Régime geltenden Bestimmungen grösstenteils wieder ins Rechtssystem aufgenommen. 1819 gewährten nur 13 Kantone, die ein entsprechendes Konkordat unterzeichnet hatten, den Schweizer Bürgern die Niederlassungsfreiheit, vorausgesetzt, sie waren in der Lage, für sich selbst aufzukommen. Die anderen Kantone traten dem Konkordat nicht bei, vor allem weil sie ihre (katholische) konfessionelle Einheit gefährdet sahen oder fürchteten, Arme unterstützen zu müssen. [2]

Niederlassungsfreiheit gab es demnach in der in der alten Eidgenossenschaft nicht. Erst die Helvetische Republik führte die Niederlassungsfreiheit für alle Schweizer ein; ein Schritt, der von den französischen Besatzern erzwungen worden war und der bereits mit der Mediationsakte von 1803 weitgehend rückgängig gemacht wurde. Mit Beginn der Restauration ab 1815 wurde die Niederlassungsfreiheit abgeschafft und es gewährten ab 1815 nur 13 von 22 Kantonen aufgrund eines Konkordates ihren Bürgern gegenseitig die Freiheit, sich unter bestimmten Bedingungen im anderen Kanton niederzulassen.

Auf dieser rechtlichen Situation baute die erste Bundesverfassung von 1848 auf.

 

Die zweite Station - Art. 41 der ersten Bundesverfassung von 1848

Die Hintergründe der Schaffung der Bundesverfassung von 1848 werden im historischen Lexikon der Schweiz wie folgt beschrieben:

"Die Bundesverfassung (BV) von 1848 war die erste Verfassung der Eidgenossenschaft, die sich das Schweizer Volk selbst gab; sie machte, weil die Revolutionen in den Nachbarländern scheiterten, die Schweiz für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zur demokratisch-republikanischen Insel inmitten der Monarchien Europas. (…)

Im Juni akzeptierte die Tagsatzung das neue Verfassungswerk; im Juli und August folgten die Abstimmungen in den Kantonen, von denen 15½ zustimmten, während 6½ (Uri, Schwyz, Ob- und Nidwalden, Zug, Wallis, Tessin und Appenzell Innerrhoden) den Verfassungsentwurf ablehnten. In Luzern erfolgte die Annahme nur, weil man die Nichtstimmenden zu den Ja-Stimmen zählte, in Freiburg hatte der Grosse Rat allein entschieden." [3]

Die Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 12. Herbstmonat 1848 [4] wurde durch Beschluss der Tagsatzung vom 14. Herbstmonat des Jahres 1848 in Kraft gesetzt (Beschluss am Ende der Übergangsbestimmungen). Der Herbstmonat ist der September. [5] Sie befasste sich in Artikel 41 mit der Niederlassungsfreiheit. Die Bestimmung lautete:

Art. 41.
Der Bund gewährleistet allen Schweizern, welche einer der christlichen Konfessionen angehören, das Recht der freien Niederlassung im ganzen Umfange der Eidgenossenschaft, nach folgenden nähern Bestimmungen:
1) Keinem Schweizer, der einer der christlichen Konfessionen angehört, kann die Niederlassung in irgend einem Kanton verweigert werden, wenn er folgende Ausweisschriften besitzt:

  1. einen Heimathschein oder eine andere gleichbedeutende Ausweisschrift;
  2. ein Zeugniß sittlicher Aufführung;
  3. eine Bescheinigung, daß er in bürgerlichen Rechten und Ehren stehe;

und wenn er auf Verlangen sich ausweisen kann, daß er durch Vermögen, Beruf oder Gewerbe sich und feine Familie zu ernähren im Stande sei.
Naturalisirte Schweizer müssen überdieß die Bescheinigung beibringen, daß sie wenigstens fünf Jahre lang im Besitze eines Kantonsbürgerrechtes sich befinden.
2) Der Niedergelassene darf von Seite des die Niederlassung gestattenden Kantons mit keiner Bürgschaft und mit keinen andern besondern Lasten behufs der Niederlassung belegt werden.
3) Ein Bundesgesetz wird die Dauer der Niederlassungsbewilligung, so wie das Maximum der zu Erlangung derselben an den Kanton zu entrichtenden Kanzleigebühren bestimmen.
4) Der Niedergelassene genießt alle Rechte der Bürger des Kantons, in welchem er sich niedergelassen hat, mit Ausnahme des Stimmrechts in Gemeindeangelegenheiten und des Mitantheiles an Gemeinde- und Korporationsgütern. Jnsbesondere wird ihm freie Gewerbsausübung und das Recht der Erwerbung und Veräußerung von Liegenschaften zugesichert, nach Maßgabe der Gesetze und Verordnungen des Kantons, die in allen diesen Beziehungen den Niedergelassenen dem eigenen Bürger gleich halten sollen.
5) Den Niedergelassenen anderer Kantone können von Seite der Gemeinden keine größern Leistungen an Gemeindelasten auserlegt werden, als den Niedergelassenen des eigenen Kantons.
6) Der Niedergelassene kann aus dem Kanton, in welchem er niedergelassen ist, weggewiesen werden:

  1. durch gerichtliches Strafurtheil;
  2. durch Verfügung der Polizeibehörden, wenn er die bürgerlichen Rechte und Ehren verloren hat, oder sich eines unsittlichen Lebenswandels schuldig macht, oder durch Verarmung zur Last fällt, oder schon oft wegen Uebertretung polizeilicher Vorschriften bestraft werden mußte.

Die Niederlassungsfreiheit galt dem klaren Wortlaut von Art. 41 BV von 1848 nur für Schweizer. Sie galt nach dem ebenfalls klaren Wortlaut – wiederholt in Ziffer 1 – nur für Schweizer, welche einer der christlichen Konfessionen angehörten. Zweck der Bestimmung war es, die Schweizer mit jüdischem Glaubensbekenntnis von der Niederlassungsfreiheit auszunehmen, wie der "Bericht über den Entwurf einer Bundesverfassung, vom 8. April 1848" von Henry Druey, zu finden on-line in der EHT-Bibliothek, [6] auf Seite 16 bei den Erläuterungen zu Art. 39 des Verfassungsentwurfs in aller Offenheit festhielt: "Der Artikel 39 garantirt die freie Niederlassung nur den Schweizern, welche einer der christlichen Konfessionen angehören. Man hatte hier vorzüglich im Auge, die Juden auszuschliessen, besonders mit Rücksicht auf die fremden, welche nicht ermangeln würden, auf zwischen der Schweiz und Nachbarländern bestehende Verträge sich zu berufen, welche festsetzen, daß die Bürger dieser Staaten den Eidgenossen gleich gehalten werden sollen." [7] Art. 39 des Entwurfs ist in Art. 41 der Verfassung von 1848 aufgegangen. Der Zweck der Regelung blieb: Es ging vor allem darum zu verhindern, dass Ausländer jüdischen Glaubens sich gestützt auf einen Staatsvertrag zwischen der Schweiz und ihrem Heimatstaat auf die Niederlassungsfreiheit berufen konnten; dafür nahm man zumindest in Kauf, dass Schweizer jüdischen Glaubens gegenüber den übrigen Schweizern diskriminiert wurden.

Die Niederlassungsfreiheit war weiter an die Bedingung geknüpft, dass derjenige, der sich auf sie berufen wollte, über einen Heimatschein verfüge und ein Zeugnis "sittlicher Aufführung" sowie eine Bescheinigung "dass er in bürgerlichen Rechten und Ehren stehe" beibringen konnte. Auf Verlangen musste er überdies nachweisen, dass er durch Beruf, Gewerbe oder Vermögen sich und seine Familie zur ernähren imstande war. Eingebürgerte Schweizer mussten überdies den Nachweis erbringen, dass sie seit mindestens fünf Jahren über das Kantonsbürgerrecht ihresHeimatkantons verfügten.

Wir müssen annehmen, dass es grosse Widerstände gegen die Niederlassungsfreiheit gab. Dieser Schluss ist den sehr detaillierten Bestimmungen von Art. 41 BV von 1848 zu entnehmen. Zum einen verbot Ziffer 2 den Kantonen, denjenigen, die von ihrem Niederlassungsrecht Gebrauch machten, besondere Lasten oder Bürgschaften aufzuerlegen. Die Gebühren, die für die Niederlassung verlangt werden durften, sollten nach Ziffer 3 durch ein Bundesgesetz geregelt werden. Der oder die Niedergelassenen musste in Bezug auf die Kantonsbürgerrechte den bereits niedergelassenen Bürgern gleichgestellt werden; ihm durften für die Ausübung eines Gewerbes oder den Erwerb und Verkauf von Liegenschaften keine Einschränkungen gemacht werden, die für bereits Niedergelassene nicht galten.

Nur die politischen Mitwirkungsrechte in der Wohngemeinde und einen Anteil am Vermögen der Gemeinden und Korporationen mussten dem Niedergelassenen nicht gewährt werden. Aber auch den Gemeinden wurde in Ziffer 5 verboten neu Niedergelassene mit Leistungspflichten und Lasten zu belegen, die von den bereits Niedergelassenen nicht verlangt wurden.

Schliesslich bestimmte Ziffer 6 die Bedingungen, unter denen Niedergelassenen die Niederlassungsbewilligung entzogen werden durfte: Nur Strafurteile, Verfügungen der Polizeibehörden, mit denen der Niedergelassene seine bürgerlichen Rechte und Ehren verloren hatte, ein unsittlicher Lebenswandel, die wiederholte Übertretung von Polizeivorschriften oder Verarmung, die zu Unterstützungspflichten führten, waren als Grund für den Entzug der bereits erteilten Niederlassungsbewilligung zulässig.

Es fällt auf, wie detailliert die Regelungen auf Verfassungsstufe ausfielen. Sie gaben wieder, was den Zeitgenossen wichtig erschien, damit das Recht der Niederlassungsfreiheit auch tatsächlich beansprucht und nicht auf Umwegen unterlaufen werden konnte.

 

Die dritte Station – der Niederlassungvertrag mit Frankreich von 1864

Art. 41 der Bundesverfassung von 1848 gewährte die Niederlassungsfreiheit nur Schweizern, welche einer der christlichen Konfessionen angehörten. Diese Regelung führte zu Problemen, als die Schweiz 1864 den Niederlassungsvertrag mit Frankreich schloss. Der zwischen der Schweiz und Frankreich geschlossene "Vertrag über die Niederlassung der Schweizer in Frankreich und der Franzosen in der Schweiz vom 30. Juni 1864" [8] hielt in Art. 1 unmissverständlich fest:

"Art. 1. Die Franzosen werden ohne Unterschied der Religion in jedem Kanton der Eidgenossenschaft bezüglich ihrer Personen und ihres Eigenthums auf dem nämlichen Fusse und auf die nämliche Weise aufgenommen und behandelt werden, wie die christlichen Angehörigen der andern Kantone behandelt sind oder in Zukunft behandelt werden mögen. Sie werden daher in die Schweiz gehen, kommen und darin zeitlichen Aufenthalt nehmen können, sobald sie mit regelmässigen Pässen versehen sind und sich den Gesezen und Polizeiverordnungen unterziehen."

Die Botschaft zum Niederlassungsvertrag – enthalten in der "Botschaft des Bundesrathes an die Bundesversammlung, betreffend die Verträge mit Frankreich vom 15. Juli 1864 [9] - erläuterte die Regelung von Art. 1 des Staatsvertrags: "Die Vertragsrechte werden allen Franzosen ohne Unterschied der Religion zugestanden." [10] Alle Franzosen in der Schweiz waren also gleich zu behandeln, wie Schweizer mit christlichem Glaubensbekenntnis – aber unabhängig von ihrem religiösen Bekenntnis.

Der Vertrag von 1864 war nicht neu, denn bereits seit 1827 bestand ein Niederlassungsvertrag zwischen einigen Kantonen der Eidgenossenschaft und Frankreich. Art. 1 des Vertrags vom 30. Mai 1827 lautete nämlich: "Die Franzosen werden in jedem Kanton .... auf die nämliche Weise behandelt, wie die Angehörigen der andern Kantone behandelt sind oder behandelt werden könnten." [11] Wie diese Regelung im Niederlassungsvertrag von 1827 zu verstehen war, wurde mit einem Zitat des Vertreters von Frankreich aus den Verhandlungen vom 7. August 1826 zusammengefasst: "Ich soll in dieser Beziehung bemerken, dass, weil dieser Artikel den Franzosen einzig diejenigen Rechte einräumt, welche von jedem eidgenössischen Kanton den Angehörigen der andern Kantone zugestanden sind, daraus nothwendig folge, dass in denjenigen Kantonen, in welchen die Geseze den Bekennern der mosaischen Religion Wohnsiz und jede neue Niederlassung verweigern, die sich zu besagter Religion bekennenden Untertanen des Königs keineswegs den erwähnten Artikel in Anspruch nehmen konnten, um eine Ausnahme von der allgemeinen Regel zu verlangen, …"[12]

Die Staatsorganisation der Schweiz vor der Gründung des Bundesstaates von 1848 erlaubte es den Kantonen nach der Auffassung des französischen Vertragspartners, französische Staatsbürger jüdischen Glaubens von ihrem Kanton fernzuhalten, weil sie auch Angehörigen anderer Kantone die Niederlassung verweigern durften, wenn diese dem jüdischen Glaubensbekenntnis angehörten [13]. Das war allerdings nicht unbestritten wie der Bundesrat in der Botschaft zum Niederlassungsvertrag von 1864 zugab, indem er schrieb: "Bekanntlich hat diese Ausschlussbestimmung zu allen Zeiten viele Händel erregt. es ist fast kein Jahr vergangen, in welchem sie nicht zu Reklamationen und Notenwechsel Anlass gab." [14]

Nun hatte aber Frankreich unter anderem den Abschluss von Handelsverträgen davon abhängig gemacht, dass die Schweiz ausdrücklich französische Staatsbürger jeder Religion die Niederlassungsfreiheit gewährte. Der Bundesrat bestätigte diese Forderung Frankreichs in seiner Botschaft: "Sobald die erste Anregung zu einem Handelsvertrag erfolgte, erklärte die französische Regierung des Bestimmtesten, dass sie ohne Aufhebung dieser Ausschlussbestimmung keinen Vertrag abschließen werde. Sie erklärte es als Ehrensache, keinen Vertrag einzugehen, welcher eine Klasse der Franzosen förmlich zurükseze." [15]

Der Niederlassungsvertrag mit Frankreich von 1864 ging daher weiter, als Art. 41 der Bundesverfassung von 1848. Er bewirkte, dass französische Staatsbürger jüdischen Glaubens sich in der ganzen Schweiz auf die Niederlassungsfreiheit berufen konnten. Schweizer jüdischen Glaubens hatten diese Möglichkeit nicht. Der Vertrag wurde abgeschlossen und ratifiziert, weil Frankreich ihn mit Handelsverträgen verknüpft hatte.

 

Die vierte Station – Basel-Landschaft verweigert die Anwendung des Niederlassungsvertrags mit Frankreich von 1864

Der Kanton-Basellandschaft akzeptierte die durch den Niederlassungsvertrag mit Frankreich von 1864 entstandene Rechtslage nicht und versuchte zu verhindern, dass sich jüdische Familien auf seinem Kantonsgebiet niederlassen konnten.

Ersichtlich ist das aus "Botschaft des Bundesrathes an die vereinigte Bundesversammlung, betreffend die von der Regierung von Basel Landschaft an französische Israeliten verweigerte Niederlassung vom 28. Oktober 1865" [16]. Regierung und Landrat des Kantons hatten jüdischen Familien, die aus dem Elsass in den Kanton Basellandschaft umziehen wollten und sich dabei auf den Niederlassungsvertrag mit Frankreich vom 30. Juni 1864 beriefen, die Niederlassung gestützt auf Art. 41 BV von 1848 verweigert. Der Bundesrat beschrieb gegenüber den eidgenössischen Räten den Streit, kurz aber präzise: "Mit Zuschriften vom 22. und 25. Juli abhin gelangte die französische Gesandtschaft an den Bundesrath mit der Anzeige, dass die französischen Jsraeliten Lehmann Dietisheim und Benjamin Nordmann sich mit dem Gesuch um Niederlassung an die Behörden von Basel-Landschaft gewendet, aber einen Abschlag erhalten haben. Die Gesandtschaft drükte ihre Verwunderung aus über dieses Verfahren, dass es einer Kantonsregierung zustehen sollte, einen zwischen der Schweiz und Frankreich abgeschlossenen und gehörig ratifizirten Vertrag neuerdings in Diskussion zu ziehen. Wir haben diese Beschwerden der Regierung von Basel-Landschaft zum Bericht mitgetheilt. Dieselbe antwortete unterm 24. August, dass sie sich nicht für kompetent erachtet habe, über die Niederlassungsgesuche der beiden Jsraeliten endgültige Beschlüsse zu fassen, sondern es für angemessen erachtet habe, diese Angelegenheit dem Landrathe zum Entscheide vorzulegen, diese Behörde habe aber beschlossen, es könne den gestellten Ansuchen um Bewilligung der Niederlassung und Gewerbesausübung im Hinblik aus die Bestimmungen der Bundesverfassung und des Art. 18 der Kantonsverfassung nicht entsprochen werden, bis diese mit dem schweizerisch - französischen Handels .. und Niederlassungsvertrag vom 30. Juni 1864 durch Revidirung in Einklang gebracht sein werden."

Dabei bemerkte die Regierung von Baselland, es seien nicht religiöse Bedenken, welche diese Schlussnahme veranlasst haben, sondern es liege der "Grund in dem zu befürchtenden Zudrange der elsässischen Jsraeliten und der daraus entspringenden lästigen Hemmung der eigenen Einwohner. Wenn auch durch diesen Beschluss neue Verwikelungen gegenüber den französischen Behörden hinsichtlich des erwähnten Niederlassungs- und Handelsvertrages hervorgerufen werden, so sei derselbe immerhin als eine den bestehenden Gesezen entsprechende Schlussnahme zu betrachten." [17] Schlussnahme ist alte schweizerische Amtssprache und hat laut Duden die Bedeutung von "Beschlussfassung" [18].

 

Die fünfte Station – Lösung durch Revision von Art. 41 der Bundesverfassung von 1848

Die Rechtslage befriedigte die Zeitgenossen scheinbar nicht, hatten französische Staatsbürger jüdischen Glaubensbekenntnisses in Bezug auf die Niederlassung mehr Rechte, als Schweizer des gleichen Bekenntnisses. Noch 1865 legte die Bundesversammlung deshalb dem Volk eine Teilrevision der Bundesverfassung von 1848 vor.

Mit "Bundesgesez betreffend die Revision der Bundesverfassung vom 19. Wintermonat 1865" schlugen die Räte die Revision der Bundesverfassung in verschiedenen Punkten vor. Der Wintermonat ist der Dezember [19].

Beantragt wurde auch, Art. 41 BV so zu ändern, dass die Niederlassungsfreiheit jedem Schweizer unabhängig von seinem religiösen Bekenntnis zugestanden wurde; Eingebürgerte sollten überdies den übrigen Kantonsbürgern in Bezug auf die Niederlassung gleichgestellt sein. [20]

Der Vorschlag des Parlaments zu Art. 41 der Bundesverfassung wurde in der Volksabstimmung vom 14. Januar 1866 angenommen. [21] Seither gilt die Niederlassungsfreiheit unabhängig vom religiösen Bekenntnis. Gleichzeitig wurden eingebürgerte Schweizer den übrigen Niedergelassenen gleichgestellt; sie mussten also nicht mehr nachweisen, seit fünf Jahren Bürger ihres Heimatkantons zu sein.

 

Die Übernahme der Niederlassungsfreiheit in Art. 45 der Bundesverfassung von 1874 

Die Bundesverfassung vom 29. Mai 1874 ist in ihrer ursprünglichen Fassung in der on-line zugänglichen Gesetzessammlung des Staatsarchivs Zürich zu finden [22] . Sie blieb bis zum Inkrafttreten der aktuell gültigen Verfassung in Kraft und regelte die Niederlassungsfreiheit in Art. 45. 

Die Bestimmung war aus dem Vorschlag des Bundesrates zur ersten Totalrevision der Bundesverfassung hervorgegangen. In der "B o t s c h a f t des Bundesrathes an die h. Bundesversammlung, betreffend die Revision der Bundesverfassung. (Vom 17. Juni 1870.)" [23]. Im V. Teil der Vorlage mit dem Titel "Freie Niederlassung und Rechtstellung der Niedergelassenen" [24] wurden die Revision von Art. 41 der Bundesverfassung von 1848 dahingehend erläutert, es würden die formellen Anforderungen an die Niederlassung vereinfacht, die Anforderungen an eine Ausweisung erhöht und den Niedergelassenen von Bundesrechts auf Gemeindeebene die politischen Rechte zugestanden  [25]. Die Vorlage mündete im Verfassungsentwurf vom 5. März 1872, der vom Volk abgelehnt wurde.

Der Vorschlag des Bundesrates vom 16. Juni 1873 sah gegenüber der Vorlage von 1872 einige Änderungen vor; die Bestimmungen über die Niederlassungsfreiheit gehörten nicht dazu [26]. Mit der Annahme der Bundesverfassung am 29. Mai 1874 war die Niederlassungsfreiheit in Art. 45 geregelt. Die ursprüngliche Fassung von 1874 lautete:

Art. 45. 
Jeder Schweizer bat das Recht, sich innerhalb des schweizerischen Gebietes an jedem Orte niederzulassen, wenn er einen Heimatschein oder eine andere gleichbedeutende Ausweisschrift besitzt.
Ausnahmsweise kann die Niederlassung denjenigen, welche infolge eines strafgerichtlichen Urteils nicht im Besitze der bürgerlichen Rechte und Ehren sind, verweigert oder entzogen werden.
Weiterhin kann die Niederlassung denjenigen entzogen werden, welche wegen schwerer Vergehen wiederholt gerichtlich bestraft worden sind, sowie denjenigen, welche dauernd der öffentlichen Wohltätigkeit zur Last fallen und deren Heimatgemeinde beziehungsweise Heimatkanton eine angemessene Unterstützung trotz amtlicher Aufforderung nicht gewährt.
In Kantonen, wo die örtliche Armenpflege besteht, darf die Gestattung der Niederlassung für Kantonsangehörige an die Bedingung geknüpft werden, daß dieselben arbeitsfähig und an ihrem bisherigen Wohnorte im Heimatkanton nicht bereits in dauernder Weise der öffentlichen Wohltätigkeit zur Last gefallen seien.
Jede Ausweisung wegen Verarmung muß von seiten der Regierung des Niederlassungskantons genehmigt und der heimatlichen Regierung zum voraus angezeigt werden.
Der niedergelassene Schweizer Bürger darf von seiten des die Niederlassung gestattenden Kantons mit keiner Bürgschaft und mit keinen andern besonderen Lasten behufs der Niederlassung belegt werden. Ebenso darf die Gemeinde, in welcher er seinen Wohnsitz nimmt, ihn nicht anders besteuern als den Ortsbürger.
Ein Bundesgesetz wird das Maximum der für die Niederlassungsbewilligung zu entrichtenden Kanzleigebühr bestimmen.

Im Verlaufe der Geltungsdauer der Bundesverfassung von 1874 wurde Art. 45 wiederholt geändert. In seiner letzten Fassung [27] legte er fest:

Art. 45
1 Jeder Schweizer kann sich an jedem Orte des Landes niederlassen.
2 Ein Schweizer darf aus der Schweiz nicht ausgewiesen werden.

Die Regelung wurde vor allem sprachlich angepasst und in Art. 24 der heute geltenden Verfassung von 1999 übernommen.

 

Zürich, 20. Februar 2022 / T. Gattlen

[1] SR 101
[2] Guzzi-Heeb, Sandro: "Niederlassungsfreiheit", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 28.05.2009, übersetzt aus dem Italienischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/010369/2009-05-28/, konsultiert am 08.02.2022."
[3] Kley, Andreas: "Bundesverfassung (BV)", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 03.05.2011. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/009811/2011-05-03/, konsultiert am 02.02.2022.
[4] BBl 1949 I 3
[5] https://www.duden.de/rechtschreibung/Herbstmonat
[6] ETH Henry Druey, Entwurf einer Bundesverfassung vom 8. April 1848
[7] ETH Henry Druey, Entwurf einer Bundesverfassung vom 8. April 1848, Seite 16
[8] BBl 1864 II 435
[9] BBl 1864 II 253, ab Seite 309
[10] BBl 1864 II 253, Seite 309
[11] BBl 1846 II 253, Seite 309
[12] BBl 1846 II 253, Seite 309 f.
[13] BBl 1864 II 253, Seite 310
[14] BBl 1864 II 253, Seite 310
[15] BBl 1864 II 253, Seite 310
[16] BBl 1865 III 801
[17] BBl 1865 III 801, Seite 802
[18] https://www.duden.de/rechtschreibung/Schlussnahme
[19] https://www.duden.de/rechtschreibung/Wintermonat
[20] BBl 1865 IV 1
[21] BBl 1866 I 101
[22] http://archives-quickaccess.ch/stazh/os/ref/OS+17+(S.+425-463)
[23] BBl 1870 II 665
[24] BBl 1870 II 676 ff.
[25] BBl 1870 II 677 f.
[26] BBl 1873 II 774
[27] https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1/1_1_1/de