Blog 9: Dezember 2022
Das Fabrikgesetz von 1877 – Hintergründe / Gesetzgebungsprozess / Vollzug
Thema dieses Beitrags ist das «Bundesgesez betreffend die Arbeit in den Fabriken» vom 23. März 1877 [1]. Anlass für diesen Beitrag isst die Vernissage des Buches «Fädlikinder – Wie Kinder um ihre Kindheit betrogen wurden» von Bernadette Zemp [2]. Es ist unter dem Link https://www.muehlerama-seon.ch/muehlerama/buch-faedlikinder/ sowie im Buchhandel bestellbar.
Während sich das Buch von Bernadette Zemp vor allem mit betroffenen Kindern befasst, will dieser Beitrag die juristischen Aspekte des Fabrikgesetzes von 1877 beleuchten; das erste gesamteidgenössische Gesetz, mit dem die Arbeit in den Fabriken geregelt werden sollte.
Grundlage dieses Beitrags bilden die öffentlich zugänglichen Quellen zum Gesetz, zu seiner Entstehung und zum Vollzug. Darüber hinaus bietet die Schaffung des Nachfolgegesetzes ab 1910 einen guten Rückblick in die aus der Sicht der Zeitgenossen sich zeigenden Wirkungen aber auch Mängel des Gesetzes von 1877.
Die Verfassungsgrundlage als Ausgangslage der Gesetzgebung:
Art. 34 Absatz 1 der BV von 1874 lautete:
«1 Der Bund ist befugt, einheitliche Bestimmungen über die Verwendung von Kindern
in den Fabriken und über die Dauer der Arbeit erwachsener Personen in denselben
aufzustellen. Ebenso ist er berechtigt, Vorschriften zum Schutze der Arbeiter
gegen einen die Gesundheit und Sicherheit gefährdenden Gewerbebetrieb zu erlassen.»
Mit dem Inkrafttreten der Bundesverfassung von 1874 am 29. Mai 1874 hatte der Bund die Möglichkeit erhalten, in einem beschränkten Rahmen über die Fabrikarbeit Regeln zu setzen. Kaum Beschränkungen ergibt der Wortlaut von Art. 34 «über die Verwendung von Kindern» in Fabriken. Für erwachsene Personen allerdings durfte der Bund nur Vorschriften über die Dauer der Arbeit aufstellen. Ebenso war er berechtigt, in Gewerbebetrieben Vorschriften zum Schutze der Gesundheit und der Sicherheit aller Mitarbeiter zu erlassen.
Die Bestimmung wurde so verstanden, «daß es nothwendig sei, gewissen, in dem industriellen Gewerbebetrieb dermalen noch bestehenden Uebelständen, unter denen die dabei beschäftigten Arbeiter zu leiden haben} Abhilfe zu schaffen.» [3].
Die Notwendigkeit des Gesetzesprojekts selber aber wurde trotz der Bestimmung von Art 34 BV in Frage gestellt. Die Botschaft teilt die Einwände in drei Gruppen auf. Es wurde die Notwendigkeit der vorgesehenen Gesetzgebung in Frage gestellt (Argument der fehlenden Notwendigkeit), dann wurden grundsätzliche Bedenken gegen den Eingriff des Staates in die Wirtschaft angebracht (liberale Argumente), schliesslich wurde vorgebracht, die Kantone seien besser für eine entsprechende Gesetzgebung geeignet (föderalistische Argumente). Die Argumentation lässt sich aufgrund dreier Zitate aus der Botschaft belegen:
«Es wird in Zweifel gezogen, ob denn wirklich heutzutage noch, in dem Fabrikwesen unseres Landes Uebelstände bestehen, welche zu öffentlichen Klagen Anlaß geben und für das geistige oder körperliche Wohl der Arbeiter bedrohlich sind. Man verwechsle allzuleicht das schweizerische Fabrikwesen mit dem Fabrikwesen anderer Länder und übertrage, was in Betreff der Fabrikverhältnisse Deutschlands, Frankreichs und Englands wahr sein möge, ohne Weiteres auf unsere Zustände. Man verwechsle die Gegenwart mit der Vergangenheit, spreche und urtheile so, als ob die Fabrikzustände, wie sie vor 20 Jahren bestanden, noch heute dieselben wären. Man stehe unter dem Eindruk von Klagen, die nicht in unserem Lande entstanden, sondern importirt seien, und schike sich an, gegen fictive Uebel zweifelhafte Maßregeln zu ergreifen.» [4].
«Ein anderer Standpunkt tritt uns mit dem Grundsaz entgegen, daß sich die staatliche Gesezgebung überhaupt nicht in diese Verhältnisse einzumischen habe: Der Staat soll nicht Alles, auch Arbeit und Produktion, reglementiren und in willkürliche Gesezesparagraphen einschnüren wollen. Der Unternehmer einer Fabrik verlange in der Schweiz von dem Staate, außer des allgemeinen Rechtsschuzes, nichts ; er verlange weder ein Patent, das ihn vor Konkurrenz schüzt, noch, wie die Eisenbahnen, für Erwerbung des Grundes und Bodens eine Expropriation oder besondere Gesezesvorschriften für den Schuz seines Eigenthums; er verlange keine Ausnahmsbehandlung nach irgendwelcher Seite, und so sei nicht einzusehen, wie der Staat dazu komme, ihn und seine Produktion zum Gegenstand besonderer gesezgeberischer Vorschriften zu machen, um so weniger als auch das Arbeitnehmen in der Fabrik durchaus Sache des freien Willens sei und Niemand weder einzutreten gezwungen noch auszutreten gehindert werde. Das Interveniren des Staats in Verhältnisse wirthsehaftlicher Ordnung sei durchaus verwerflich. Diese Ordnung habe ihre eigenen Geseze, die für jede Ausschreitung, für jedes durch die wirthschaftliche Freiheit hervorgerufene Uebel das naturgemäße Korrektiv selbst mit sich führten, wie ja die .Fabrikindustrie von manchen Einrichtungen, die sich als schädlich erwiesen, ohne äußern Zwang von selbst zurükgekommen sei. Ein willkürliches Eingreifen in die Geseze der wirthsehaftlichen Ordnung sei aber nicht nur unnöthig, sondern auch positiv schädlich, wie sich der Staat mit seinen Gesezen über Lebensmittelpreise, Wucher u. dgl. längst hinlänglich davon habe überzeugen können. Statt also bevormundend mit gesezgeberischen Vorschriften die Arbeit in den Fabriken zu reglementiren, werde der Staat viel besser thun und das Interesse Aller viel richtiger berathen, wenn er dieses Gebiet dem Walten individueller Freiheit überlasse.» [5]
«Wenn endlich der Erlaß gesezgeberischer Bestimmungen über die Materie durch den Bund von dem Gesichtspunkt aus beanstandet wird, daß die Kantone geeigneter wären, in den verwikelten und von Kanton zu Kanton verschieden sich gestaltenden Verhältnissen der Fabrikindustrie das Richtige zu treffen, als die Bundesgesezgebung ; daß eine solche einheitliche Gesezgebung namentlich den großen Nachtheil habe, intensivere Maßregeln, wie sie vielleicht einzelne Kantone, wenn frei gelassen, möglicherweise bald treffen würden, zurükzuhalten und alle Kantone auf ein gleiches Niveau zu bannen, ….» [6]
Diesen Argumenten wurde vom Bundesrat bereits am Anfang der Botschaft entgegengehalten: «Die Bundesverfassung hat hierüber eine andere Ansicht, welche für die Gesezgebung maßgebend ist.» [7]
Allerdings räumte der Bundesrat ein: «Konnten wir den grundsäzlicheu Einwürfen gegen den Erlaß bundesgesezlicher Bestimmungen über die Arbeit in den Fabriken mit Rüksicht auf die deutlichen Vorschriften der Bundesverfassung nur uneinläßlich antworten, so steht es etwas anders mit der Frage, ob es nothwendig, ob es gerathen sei, den Erlaß eines solchen Gesezes, das seinem Zweke gemäß einschränkender Natur sein wird, jezt, unter den dermalen waltenden Umständen, an die Hand zu nehmen.» [8].
Schon im Vorfeld des Gesetzgebungsprojekts war der Bundesrat unter politischen Druck gesetzt worden, was er in der Botschaft beschrieb: «Wir haben vor uns eine an den Bundesrath gerichtete, von 272 Industriellen der Schweiz unterzeichnete Eingabe, welche einerseits hervorhebt, daß der Art. 34 mehr als ein Gelegenheits- denn als ein Fundamentalartikel der neuen Bundesverfassung anzusehen sei, andererseits mit allem Ernst auf die schwierige Lage hinweist, in welcher sich dermalen die einheimische Industrie befinde. „Handel und Gewerbe", mahnen sie, „liegen darnieder, aus Ursachen, welche von uns unabhängig sind. Die umgebenden großen Staaten suchen durch Erhöhung der Zölle unserer Industrie altgewohnte Absazgebiete zu verschließen, um ihre eigene Industrie zu kräftigen und ihre Zolleinnahmen zu erhöhen; frühere Vortheile unserer Industrie, die Wasserkräfte und billigen Löhne, haben theils nicht mehr die Bedeutung wie früher, …» [9]
Aber auch die Vertreter der Arbeiterschaft hatten politischen Druck aufgebaut, wie der Bundesrat darlegte: «Anders freilich tönen die Stimmen aus den Kreisen der schweizerischen Arbeiter. Ihnen ist der Art. 34 der Bundesverfassung von allergrößter Wichtigkeit, ein Fundamentalartikel ersten Ranges, «dessen Ausführung sie mit steigender Ungeduld entgegensehen.» [10]
Der Gesetzgebungsprozess:
Bereits am 6. Dezember 1875 – also etwas mehr als eineinhalb Jahre dem Inkrafttreten der Verfassung von 1874 – leitete der Bundesrat den Räten die Vorlage zu einem Fabrikgesetz zu [11] und erinnerte das Parlament an die schwerfälligen Bemühungen der Kantone zur Schaffung von Gesetzen zum Schutz der Arbeiter in den Fabriken:
«Mit Rüksicht auf die Wünschbarkeit, daß die Frage alleseits in richtigem Lichte betrachtet werde, wollen wir nicht unterlassen, daran zu erinnern, daß die Fabrikverhältnisse in einer Reihe von Kantonen schon längst Gegenstand gesezgeberiseher Maßregeln gewesen sind, daß diese Kantone schon 15 Jahre vor Inkrafttreten der jezigen Bundesverfassung über gemeinsame Bestimmung der Arbeitszeit in den Fabriken und zwar sowohl für Kinder als für Erwachsene konferirten und zu einem Konkordate au gelangen suchten; daß vor 8 Jahren schon die Verwendung der Kinder in den Fabriken Gegenstand der Berathung in der Bundesversammlung gewesen ist, und nur deshalb gesetzgeberisch unerledigt blieb, weil unter der alten Bundesverfassung die Kompetenz zum Erlaß von Bundesvorschriften zu fehlen schien; daß der Bundesrath bei der Revisionsberathung von 1871 die Aufnahme eines diese Kompetenz sichernden Artikels in einer besondern Botschaft befürwortete; daß die Fassung, welche der Artikel in dem Projekt von 1872 erhielt, nach den Erklärungen desjenigen, von welchem diese Fassung herrührte, auch die Befugniß in sich schloß, im Interesse der Gesundheit der Arbeiter auch deren Arbeitszeit zu regeln und somit, wenn auch weniger explicite, genau dieselben Postulate stellte, wie der entsprechende Artikel der jezigen Verfassung; daß unmittelbar nach Verwerfung des Verfassungsprojekts die Kantone wieder zusammentraten, um auf dem Wege des Konkordats ein Fabrikgesez mit einheitlicher Bestimmung der Arbeitszeit zu Stande zu bringen, und daß somit der Artikel 34 der jezigen Verfassung nicht nur kein Gelegenheitsartikel, sondern vielmehr das reiflich vorbereitete, abschließende Resultat einer langen Reihe von Berathungen und Bestrebungen ist.» [12].
Nach Auffassung des Bundesrates waren die Zustände in vielen Fabriken der Schweiz so, dass dringender gesetzgeberischer Handlungsbedarf bestand, weshalb er den Gesetzesvorschlag als dringlich einstufte: «Weil sich dies so verhält, darf das Gesez, welchem durch diesen Artikel [gemeint war Art. 34 BV] gerufen und der Weg gebahnt ist, nicht auf sich warten lassen. Es stehen große und wichtige Interessen des Landes in Frage. Die Verwendung der Kinder, die Beschäftigung der Frauen in den Fabriken muß nothwendig an Bedingungen geknüpft werden, welche geeignet sind, ihr Leben und ihre Gesundheit zu schüzen. Es muß ohne Verzug darauf Bedacht genommen werden, die Schädigungen zu verringern, welche für die Tausende, die in den Fabriken arbeiten, aus mangelhaften Einrichtungen, aus der rüksichtslosen Art und Weise des Betriebs entspringen. Es muß dafür gesorgt werden, daß die Arbeitszeit in den Fabriken sich innerhalb eines Maßes halte, welches den Gesezen des physischen Lebens nicht widerspricht, und welches den Arbeitern die Möglichkeit läßt, auch ihren allgemeinen Pflichten und Aufgaben als Menschen und Bürger gerecht zu werden. Es müssen überhaupt in den befruchtenden, unter Umständen aber auch verheerenden Strom der Fabrikindustrie gewisse Dämme eingesezt werden, welche, ohne das Gedeihen der Industrie zu hemmen und deren Wohlthaten zu beeinträchtigen, den Nachtheileii und Gefahren vorbeugen, welche dieser moderne Gewerbsbetrieb in der Schweiz wie überall mit sich führt.» [13].
Der politische Druck im Vorfeld des Gesetzgebungsprojektes hatte den Bundesrat allerdings bereits bei der Ausarbeitung des Gesetzes zu einer gewissen Vorsicht gemahnt. Er gab ihr in der Botschaft auch Ausdruck: «Lagen also, wie sich aus dem Gesagten ergibt, keine genügenden Gründe vor, um nicht die Ausführung des Art. 34 der Bundesverfassung an die Hand zu nehmen, so war um so sorgfältiger zu erwägen, welche Bestimmungen in das zu erlassende Gesez aufgenommen werden sollen.» [14].
Vor dieser Ausgangslage beriet der Nationalrat als Erstrat den Vorschlag des Bundesrates und die vorberatende Kommission erstattete mit Datum vom 24. Mai 1876 ihren Bericht [15]. Am 11. November 1876 hatte die Kommission des Ständerates ihre Beratungen abgeschlossen und ihreseits Bericht erstattet [16].
Das Gesetz wurde schliesslich am 19. März 1877 vom Ständerat und am 23. März 1877 vom Nationalrat beschlossen [17]. Innert Frist wurde das Referendum ergriffen und die Abstimmung am 21. Oktober 1877 durchgeführt [18]. Ablehnende Mehrheiten resultierte in den Kantonen Zürich, Freiburg, Appenzell A.R., Appenzell I.R., St. Gallen, Tessin, Waadt, Wallis, Genf. Insgesamt erfolgte die Annahme mit 181'204 Ja- gegen 170'857 Nein-Stimmen [19].
Der wesentliche Inhalt des Gesetzes.[20]:
Das Gesetz war in einen Teil «I. Allgemeine Bestimmungen» (Art. 1-14), einen Teil «II. Beschäftigung von Frauen in Fabriken» und einen Teil «III. Beschäftigung von minderjährigen Arbeitern in Fabriken» aufgeteilt. In einem Teil «IV. Vollziehungs- und Strafbestimmungen» waren Pflichten der Kantonsregierungen gegenüber dem Bundesrat, die Bestellung von Inspektoren geregelt und eine gesetzliche Grundlage für Strafen vorgesehen. Der Teil «V. Schlussbestimmungen» enthielt Regelungen zum weiteren Vorgehen nach den Beschlüssen von Stände- und Nationalrat.
a) zu den allgemeinen Bestimmungen:
In den allgemeinen Bestimmungen wurde zunächst der Geltungsbereich des Gesetzes festgelegt. Nach Art. 1 galt als Fabrik «jene industrielle Anstalt, in der gleichzeitig und regelmässig eine Mehrzahl von Arbeitern ausserhalb ihrer Wohnungen in geschlossenen Räumen beschäftigt wurden». Im Zweifel war es Sache des Bundesrates darüber zu entscheiden, ob eine industrielle Anstalt als Fabrik zu gelten hatte.
Art. 3 des Gesetzes machte die Eröffnung einer Fabrik von einer vorgängig erteilten Bewilligung der Kantonsregierung abhängig, die nur erteilt werden durfte, wenn die Anlagen den Sicherheitsanforderungen für die Arbeiter entsprach.
Nach Art. 4 des Gesetzes hatte ein Fabrikbesitzer von Unfällen, die die erhebliche Verletzung oder den Tod eines Arbeiters zur Folge hatte, der Kantonsregierung Kenntnis zu geben; nach Art. 5 haftete er für solche Schäden.
Nach Art. 6 des Gesetzes hatte der Fabrikbesitzer ein Verzeichnis der bei ihm beschäftigten Arbeiter zu führen und nach Art. 7 eine Fabrikordnung zu erlassen, die auch die Ausbezahlung des Lohnes festlegte. Deren Änderung musste nach Art. 8 von der Kantonsregierung genehmigt werden.
Art. 9 und 10 enthielten Bestimmungen zum Rechtsverhältnis zwischen Fabrikbesitzer und Arbeiter und Art. 11 legte die maximal zulässige Arbeitszeit fest. Sie belief sich auf elf Stunden, an Vorabenden von Sonn- und Feiertagen auf maximal zehn Stunden. Sie war in die Zeit ab 05.00 h in den Sommermonaten, ab 06.00 h in den Wintermonaten bis jeweils 08.00 h Abends zu legen. Für das Mittagessen war zumindest eine Stunde frei zu geben. Ausnahmen sah Art. 12 für bestimmte Arbeiten vor.
In Art. 13 wurde Nachtarbeit dem Grundsatz nach verboten. Art. 14 verbot grundsätzlich die Sonntagsarbeit. Für beide Fälle aber waren Ausnahmen vorgesehen.
b) zur Beschäftigung von Frauen:
Art 15 des Gesetzes legte fest:
Frauenspersonen sollen unter keinen Umständen zur Sonntags- oder zur Nachtarbeit verwendet werden.
Wenn dieselben ein Hauswesen zu besorgen haben, so sind sie eine halbe Stunde vor der Mittagspause zu entlassen, sofern ; diese nicht mindesten 1 l/2 Stunden beträgt. Vor und nach ihrer Niederkunft dürfen Wöchnerinnen im Ganzen während acht Wochen nicht in der Fabrik beschäftigt werden. Ihr Wiedereintritt in dieselbe ist an den Ausweis geknüpft, daß seit ihrer Niederkunft wenigstens sechs Wochen verflossen sind.
Der Bundesrath wird diejenigen Fabrikationszweige bezeichnen, in welchen schwangere Frauen überhaupt nicht arbeiten dürfen.
Zur Reinigung im Gange befindlicher Motoren, Transmissionen und gefahrdrohender Maschinen dürfen Frauenspersonen nicht verwendet werden.
c) zur Beschäftigung von Kindern
Art. 16 des Gesetzes war wie folgt formuliert:
Kinder, welche das vierzehnte Altersjahr noch nicht zurükgelegt haben, dürfen nicht zur Arbeit in Fabriken verwendet werden.
Für Kinder zwischen dem angetretenen fünfzehnten bis und mit dem vollendeten sechszehnten Jahre sollen der Schul- und Religionsunterricht und die Arbeit in der Fabrik zusammen eilf Stunden per Tag nicht übersteigen. Der Schul- und Religionsunterricht darf durch die Fabrikarbeit nicht beeinträchtigt werden.
Sonntags- und Nachtarbeit von jungen Leuten unter achtzehn Jahren ist untersagt. Bei Gewerben, für welche die Nothwendigkeit des ununterbrochenen Betriebs gemäß Art. 13 bundesräthlich erstellt ist, kann der Bundesrath, sofern die Unerläßlichkeit der Mitwirkung junger Leute gleichzeitig dargethan ist, zumal wenn es im Interesse tüchtiger Berufserlernung derselben selbst förderlich erscheint, ausnahmsweise gestatten, daß auch Knaben von vierzehn bis achtzehn Jahren hiebei verwendet werden. Der Bundesrath wird jedoch in solchen Fällen für die jungen Leute die Nachtarbeit unter die Maximalzeit von eilf Stunden festsezen, Abwechslung, schichtenweise Verwenduno; und dergleichen anordnen überhaupt nach Erdaurung der Sachlage jede für diese ausnahmsweise Bewilligung im Interesse der jungen Leute und ihrer Gesundheit nöthige Vorschrift und Garantie der Bewilligung beifügen.
Der Bundesrath ist ermächtigt, diejenigen Fabrikzweige zu bezeichnen, in welchen Kinder überhaupt nicht beschäftigt werden dürfen.
Ein Fabrikbesizer kann sich nicht mit Unkenntniß des Alters oder der Schulpflichtigkeit seiner minderjährigen Arbeiter entschuldigen.
Probleme beim Vollzug des Gesetzes:
Der Vollzug des Gesetzes durch die Kantone stiess in den eidgenössischen Räten auf Kritik, die in einem in der Dezembersession 1879 angenommenen Postulat mündete:
„Im vollen Vertrauen, daß der Bundesrath den Entwurf der Vollziehungsverordnung zum Bundesgeseze über die Arbeit in den Fabriken in seiner jezigen Gestaltung nicht zur Geltung bringe, sondern die dem Handelsdepartemente eingereichten Bemerkungen über denselben einläßlich prüfe und im wohlverstandenen Interesse aller Theile würdige und berücksichtige wird der Bundesrath eingeladen, jene Bemerkungen zu verwerthen und bald thunlichst durch geeignete Instruktionen der ungleichen Auslegung und Anwendung gewisser Paragraphen des in Frage liegenden Gesezes in den verschiedenen Kantonen vorzubeugen.» [21]
Das Postulat bewog den Bundesrat mit Datum vom 21. Mai 1880 zu einem Kreisschreiben an die Kantonsregierungen [22]. Notwendig schien vor allem eine einheitliche Anwendung von Art. 1 des Fabrikgesetzes. Diese Bestimmung war deshalb zentral, weil sie den Geltungsbereich des Gesetzes festlegte; auf Betriebe, die nicht unter Art. 1 fielen, war das Gesetz nicht anwendbar. Im Kreisschreiben legte der Bundesrat nunmehr fest, dass Mehlmühlen und Bierbrauereien nicht unter Art. 1 des Fabrikgesetzes fallen sollten, Ziegeleien hingegen dann, wenn sie Motoren verwendeten. Auch Ausrüstereien sollten nicht unter das Fabrikgesetz fallen [23]. Ausrüstereien waren Betriebe, «in denen das Nachstiken, Ausbessern, Ausschneiden, Höhlen, Bügeln und Legen der Stikereiwaaren besorgt wird, …»[24]
Der Bundesrat bemängelte in seinem Kreisschreiben die Handhabung der Ausnahmebewilligungen der Maximalarbeitszeiten. Hier hatten einzelne Kantone Bewilligungen auf unbestimmte Zeit erteilt, was der Bundesrat als nicht zulässig ansah. Bemängelt wurde auch die teilweise schleppende Behandlung von Gesuchen um Verlängerung der Arbeitszeit, auf die manchmal so lange gewartet werden musste, dass die Erteilung der Bewilligung keinen Sinn mehr machte [25].
Auch bei der Bewilligung für Sonntagsarbeit hatten sich Probleme gezeigt, die im Kreisschreiben beschrieben wurden. Geklärt werden sollte deshalb auf Interventionen von einzelnen Branchen die die Zulassung von Sonntagsarbeit. Der Bundesrat führte aus: «So verlangten die Fabriken für kondensirte Milch, um ein Aussezen des eigentlichen Fabrikbetriebes an Sonn- und Feiertagen zu ermöglichen, die Erlaubniß, die eingehende Milch an diesen Tagen absieden zu dürfen. Gerbereien begehrten für die warme Jahreszeit die Gestattung, ihre Häute, wenn solche in Ermanglung reichlich fließenden Wassers in die weit wärmern Gewässer eines Sees gelegt werden müssen, am Sonntag Morgen wenden zu dürfen, da sonst die eine Seite dem Uebergang in Fäulniß ausgesezt wäre. Leim- und Gelatinefabriken waren genöthigt, das gleiche Zugeständniß zu verlangen, um die zum Troknen auf Rahmen verlegten Fabrikate wenden zu können, so daß nicht einzelne nicht troknende Stellen bleiben, an welchen Zersezung eintreten würde. (…) [26]
Der Bundesrat reagierte auf die Interventionen der betroffenen Branchen: Wir haben demnach beschlossen, Sonn- und Feiertagsarbeit, welche regelmäßig das ganze Jahr oder durch längere Perioden von einzelnen Arbeitern und während höchstens drei Stunden im Tag zu dem Zwek vorgenommen werden muß, der Verderbniß des in Eerarbeitung befindlichen Materials vorzubeugen, ist für sämmtliche Etablissemente aller derjenigen Industriezweige gestattet, für welche beim Schweiz. Handels - und Landwirthschaftsdepartemeat die Bewilligung nachgesucht und der Beweis der Unvermeidlichkeit im Sinne obiger Voraussezung erbracht ist.».[27].
Aus dem Kreisschreiben zu erkennen sind Tendenzen beim Vollzug des Gesetzes. Einzelne Kantonsregierungen waren bei der Erteilung von Ausnahmebewilligungen für Maximalarbeitszeiten zu weit gegangen und verhielten sich nicht mehr gesetzeskonform; andere behandelten entsprechende Gesuche so langsam, dass die Fabrikbesitzer faktisch keinen Gebrauch von einer Ausnahmebewilligung machen konnten. Unverkennbar ist auch die Tendenz, den Anwendungsbereich des Fabrikgesetzes einzuschränken, indem z.B. Mühlen davon ausgenommen wurden, wenn nur «erwachsene männliche Arbeiter in denselben beschäftigt werden und in der Regel beim Arbeitgeber selbst Kost und Logis haben.» [28]. Ausrüstereien wurden unter anderem unter Hinweis auf Statistiken ausgenommen, «Die Zahl der in den Ausrüstereien beschäftigten Arbeiterinnen beträgt nach Abzug der Nachstikerinnen, die jedenfalls als Hilfsarbeiterinnen zu betrachten, somit allgemeinen Vorschriften über Arbeitszeit nicht unterstellt sind, höchstens 2—3 °/o der Stikereiarbeiter. Von diesen sind hinwieder kaum 1/1o Arbeiterinnen unter 18 Jahren. Die Zahl der Ausrüstereien mit 25 oder mehr Arbeiterinnen beträgt jedenfalls nicht mehr als 10 °/o der Gesammtzahl.». Deshalb und auch, weil diese Branche das Gesetz leicht durch Heimarbeit umgehen konnte, wurden die Ausrüstereien vom Anwendungsbereich des Gesetzes ausgenommen [29]. Das ist deshalb bemerkenswert, weil in dieser Branche hauptsächlich Frauen beschäftigt waren, was sich darin zeigte, dass in der Beschreibung der einzelnen Arbeiten fast immer die weibliche Form verwendet wurde.
Weitere Probleme wurden im Kreisschreiben angesprochen, ohne aber ausführlich beschrieben zu werden: «Ueber andere Ungleichheiten in der Vollziehung des citirten Gesezes sind die Untersuchungen noch nicht abgeschlossen, und wir können deßhalb erst später über dieselben Beschlüsse fassen.» [30]. Diese Bemerkung, vor dem Hintergrund der eingangs erwähnten Intervention der eidgenössischen Räte mit dem Mittel des Postulats, machen klar, dass sich beim Vollzug des Gesetzes schon zwei Jahre nach seinem Inkrafttreten Probleme gezeigt hatten, die auf eine Aufweichung der Bestimmungen zum Schutz der Fabrikarbeiter- und arbeiterinnen und sogar Minderjähriger hinwirkte.
Rückblick des Bundesrates auf dreissig Jahre Fabrikgesetz:
Mit Datum vom 6. Mai 1910 überwies der Bundesrat seine Botschaft «betreffend die Revision des Fabrikgesetzes» an die eidgenössischen Räte [31]. Typisch für die Botschaft über ein Gesetzesprojekt war und ist damals wie heute, dass als Ausgangspunkt des Vorschlages des Bundesrates die bestehende Rechtslage und das Umfeld der geplanten Gesetzesänderungen beschrieben wird. Unter diesem Aspekt ist die Botschaft von 1910 eine zuverlässige Quelle für die Beschreibung der Wirkungen des Fabrikgesetzes im schweizerischen Wirtschaftsleben in der Zeit von 1879 bis 1910.
Die Bedeutung des Fabrikgesetzes von 1877 wurde bereit auf der ersten Seite der Botschaft beinahe enthusiastisch beschrieben: «Der Erlass des Bundesgesetzes betreffend die Arbeit in den Fabriken, vom 23. März 1877, bedeutete für die damalige Zeit eine ebenso mutvolle, wie weise Tat. Obschon in hohem Masse auf den Export industrieller Erzeugnisse angewiesen, wagte es unser kleines Land, sich mit einer tief in die Produktionsverhältnisse eingreifenden Fabrikgesetzgebung an die Spitze der Staaten zu stellen.» [32].
Die Beschreibung des Bundesrats in seiner Botschaft bestätigt im Nachhinein, was bereits aufgrund der im vorherigen Abschnitt verwendeten Quellen sich gezeigt hatte: Bereits kurz nach Inkrafttreten des Fabrikgesetzes von 1877 wurde politischer Druck aufgebaut, das Gesetz zugunsten der Fabrikbesitzer zu revidieren. Von Branchenvereinigungen und im Parlament waren Vorstösse für Revisionen gemacht worden, die der Bundesrat beschrieb:
«Die Revision des Fabrikgesetzes wurde schon früher, teils im Sinne der Einschränkung, teils im Sinne der Ausdehnung seiner Bestimmungen, verhandelt. Mit Schreiben vom 16. November 1880 (Bundesbl. IV, 325) an das St. Galler. Aktionskomitee für sich und zuhanden des schweizerischen Spinner- und Webervereins und des aargauischen Handels- und Industrievereins lehnte der Bundesrat ein Gesuch ab, das dahin ging, eine Abänderung der Bestimmungen über den sogenannten Normalarbeitsvertrag, die Kinderarbeit, das Verbot der Sonntagsarbeit, die Haftpflicht und die Strafen einzuleiten, „um die grössten Härten des Gesetzes zu mildern und der durch schwierige Verhältnisse bedrängten vaterländischen Industrie mehr freie Bewegung und Tätigkeit zu gestatten.
Dem Verein schweizerischer Maschinenindustrieller, der im Hinblick auf die freiwillige Einführung des Zehnstundentages eine Revision von Art. 12—14 postulierte, erklärte unser Industriedepartement am 13. Oktober 1890 (Bundesbl 1891, II, 238"), dass es zu dieser Revision im Sinne der von den Industriellen gewünschten Abschwächung nicht Hand bieten könne. In unserm Bericht an die Bundesversammlung vom 3. Juni 1891 (Bundesbl. III, 194) betreffend vier Beschlüsse der Räte zum Fabrikgesetz führten wir aus, dass einerseits dessen Revision behufs Einführung des Zehnstundentages verfrüht, und dass sie anderseits nicht erforderlich sei, um seinen „Schutz einer grössern Anzahl von Arbeitern zuzuwenden" (Motion Comtesse) und um das Gebiet von Art. 12 (Hülfsarbeiten) genauer zu ordnen. Hinsichtlich der Lohnzahlung, der namentlich durch zahlreiche Maifeierpetitionen postulierten Verkürzung der Maximalarbeitszeit, und der Fabrikarbeit verheirateter Frauen sprachen wir uns im Berichte an die Bundesversammlung vom 16. Juni 1894 (Bundesbl. III, 1) ebenfalls dahin aus, dass die Revision des Fabrikgesetzes noch nicht spruchreif sei. Zum gleichen Schlüsse gelangten wir in unserm Berichte vom 16. Januar 1897 (Bundesbl. I, 69) anlässlich der Prüfung der Frage, ob die Arbeitszeit der Arbeiterinnen an Samstagen einzuschränken sei. Immerhin liess sich das Industriedepartement schon damals seitens der eidgenössischen Fabrikinspektoren einen Bericht, datiert vom 1. Juni 1897, darüber erstatten, auf welche Punkte sich eine künftige Revision des Gesetzes zu erstrecken hätte. Eine Teilrevision erfolgte durch den Erlass des Bundesgesetzes vom 1. April 1905 (A. S. n. F. XXI, 386), das die Samstagsarbeit für alle in Fabriken arbeitenden Personen einschränkte und das Verbot, ihnen Arbeit nach Hause mitzugeben, aussprach.» [33].
Auch über die Erfahrungen zum Vollzug des Gesetzes von 1877 enthält die Botschaft von 1910 Hinweise: Der Weg zur Durchsetzung der Bestimmungen über Hygiene- und Unfallverhütung des Fabrikgesetzes von 1877 wird nämlich in der Botschaft beschrieben: «Diese Bestimmungen [Art. 3 des Vorschlages des Bundesrates, der Art. 2 des Fabrikgesetzes von 1877 ersetzen sollte] sind der Hygiene und Unfallverhütung gewidmet und daher von ganz wesentlicher Bedeutung. Die Vorschriften von 1877 boten den ausführenden Organen und namentlich dem eidgenössischen Fabrikinspektorat eine vollkommen genügende Handhabe, um die nötigen Vorsichtsmassregeln zu treffen und mit der Zeit in den Fabriken nicht nur erträgliche, sondern vielerorts musterhafte Zustände herbeizuführen.» [34]. Diese Bemerkung beschreibt in positiver Weise einen langwierigen und mühevollen Weg der Durchsetzung der Hygiene- und Unfallverhütungsvorschriften des Fabrikgesetzes von 1877.
Zur Frauenarbeit findet man indirekte Hinweise über Mängel des Fabrikgesetzes von 1877t: «Das internationale Übereinkommen betreffend das Verbot der industriellen Nachtarbeit der Frauen, vom 26. September 1906, umfasst auch die Bergwerke und Steinbrüche. Diese Betriebe fallen in der Schweiz unter das Fabrikgesetz, wenn sie Annexe von Fabriken (z. B. Zement-, Kalk- und Gipsfabriken), nicht aber, nach bisheriger Auffassung, wenn sie selbständig sind.» [35]. In Bergwerken und Steinbrüchen war demnach unter dem Fabrikgesetz von 1877 die Frauenarbeit auch in der Nacht erlaubt. Wahrscheinlich dürfte aber zutreffen, dass es keine oder nur wenige derartige Betriebe in der Schweiz gab.
Folgt man der Botschaft von 1910, dann arbeiteten im Jahre 1901 in schweizerischen Fabriken 72'728 «weibliche Personen» [36]. Die sie betreffenden Verhältnisse sollten in Einzelpunkten verbessert werden, ohne sie grundsätzlich in Frage zu stellen oder stark einzuschränken [37].
Etwas breiter sind die Darlegungen zur Arbeit in Fabriken durch Personen zwischen 14 und 18 Jahren. Sie galten nach der Terminologie des Gesetzes von 1877 als «minderjährig», was nicht mit der bürgerlichen Minderjährigkeit übereinstimmte. Trotz Inkrafttreten des Fabrikgesetzes von 1877 hatte die Arbeit von Personen zwischen 14 und 18 Jahren in den Fabriken nicht erkennbar abgenommen. Von den in der Statistik erfassten Fabrikarbeitern gehörten nämlich 1882 18,6 %, 1888 14,5 %, 1895 14,3 % und 1901 15,5 % in die Gruppe. [38]. Auch die absoluten Zahlen waren den Ausführungen des Bundesrates zu entnehmen: 1882 waren laut den amtlichen Fabrikzählungen insgesamt 134'856 Personen in den vom Fabrikgesetz erfassten Betrieben beschäftigt, 1888 dann 159'106, 1895 schliesslich 200'199 und 1901 insgesamt 242'534 Personen [39]. Die rechnerische Auswertung ergibt für 1882 insgesamt 25'083 Minderjährige, 1888 dann 23'070, 1895 schliesslich 28'628 und 1901 insgesamt 37'593 Personen im Alter von 14-18 Jahren.
Der Bundesrat schlug dennoch in seinem Revisionsvorschlag vor, die Altersgrenze von 14 Jahren zu belassen und gab als Begründung an: «Wünschenswert wäre an und für sich die Erhöhung des geschützten Alters im Interesse der Gesundheit der heranwachsenden Generation. Aber einerseits besteht die grosse Gefahr, dass an die Stelle des Übels ein schlimmeres trete, nämlich die Beschäftigung von Kindern unter hygienisch ungünstigern Bedingungen (z. B. in der Hausindustrie), als sie die Fabrikarbeit aufweist, oder dass sie der Verwahrlosung anheimfallen, wenn Beschäftigung und Aufsicht nicht geboten werden können. Anderseits stehen Erwerbsverhältnisse im Wege, indem gar manche Familie auf den Verdienst der Kinder in der Fabrik angewiesen ist; gegenüber dem Zwange der ökonomischen Verhältnisse kommt eine idealere Auffassung nicht auf, und manches Kind wird von dem Augenblick an, wo es möglich ist, zum Verdienen angehalten. Zu bedenken ist ferner, dass der bei Festsetzung eines höhern Eintrittsalters eintretende Ausfall an Arbeitskräften zweifellos durch Einwanderung fremder gedeckt würde, wenigstens zum Teil und in solchen Zeiten, wo sowieso das Arbeitsangebot die Nachfrage überwiegt.» [40] Der Bundesrat befürchtete bei einer Erhöhung des Mindestalters für Fabrikarbeiter eine Verschlechterung der Arbeitsverhältnisse für Kinder, weil diese ausserhalb der Fabriken eingesetzt würden, und dass die fehlenden Kindern durch Zuwanderer ersetzt würden. Ausserdem wurde Arbeit von Minderjährigen zwischen 14 bis 18 Jahren als für viele Familien ökonomisch nötig angesehen.
Schlusswort:
Was die Autorin Bernadette Zemp in ihrem Buch «Fädlikinder – Wie Kinder um ihre Kindheit betrogen wurden», vor allem als Einzelschicksale von Kinderarbeit in der Textilindustrie beschreibt, hat einen realen politischen Hintergrund, der sich im ersten Fabrikgesetz der Eidgenossenschaft von 1877, seiner Vorgeschichte, seinem Vollzug und seinen Mängeln aufzeigen lässt. Insoweit bildet dieser Text einen Beitrag zur Erfassung der Hintergründe der Kinderarbeit in der Schweiz. Zusammen mit dem Buch von Bernadette Zemp wird so ein Einblick in einige Fragmente der Arbeit in schweizerischen Fabriken in der Zeit von 1820-1900 möglich. Die von Bernadette Zemp eingebrachten Fragmente zeigen die Auswirkungen der damaligen Verhältnisse gegenüber einzelnen betroffenen Kinder; die in diesem Beitrag in nüchternem Juristendeutsch beleuchteten Fragmente geben Einblick in die aufgrund solcher Einzelschicksale erarbeitete Gesetzgebung und deren Vollzug.
Für die Erfassung des Phänomens der Kinderarbeit in der Schweiz sind möglicherweise beide Beiträge nützlich.
Zürich, 22. Dezember 2022 / T. Gattlen
[1] BBl 1877 II 483
[2] Zemp, Bernadette, Mühlerama Seon AG, 2022, ISBN 978-3-033-09483-3
[3] Botschaft 1875, BBl 1875 IV 921, Seite 921
[4] Botschaft Fabrikgesetz 1875, BBl 1875 IV 921, Seite 922
[5] Botschaft Fabrikgesetz 1875, BBl 1875 IV 921, Seiten 922/923
[6] Botschaft Fabrikgesetz 1875, BBl 1875 IV 921, Seite 923
[7] Botschaft Fabrikgesetz 1875, BBl 1875 IV 921, Seite 922
[8] Botschaft Fabrikgesetz 1875, BBl 1875 IV 921, Seite 923
[9] Botschaft Fabrikgesetz 1875, BBl 1875 IV 921, Seite 924
[10] Botschaft Fabrikgesetz 1875, BBl 1875 IV 921, Seite 924
[11] BBl 1875 IV 921
[12] Botschaft Fabrikgesetz 1875, BBl 1875 IV 291, Seiten 924/925
[13] Botschaft Fabrikgesetz 1875, BBl 1875 IV 921, Seite 925
[14] Botschaft Fabrikgesetz 1875, BBl 1875 IV 921, Seite 927
[15] Bericht Kommission Nationalrat 1876, BBl 1876 II 786
[16] Bericht Kommission Ständerat 1876, BBl 1876 IV 205
[17] Fabrikgesetz 1877, BBl 1877 II 483, Seiten 493/493
[18] Botschaft Volksabstimmung, BBl 1877 IV 645
[19] Botschaft Volksabstimmung, BBl 1877 IV 645, Seite 651
[20] Fabrikgesetz 1877, BBl 1877 II 483
[21] Wiedergegeben im Kreisschreiben Bundesrat zum Fabrikgesetz 1880, BBl 1880 96, Seite 96
[22] Kreisschreiben Bundesrat zum Fabrikgesetz 1880, BBl 1880 III 96
[23] Kreisschreiben Bundesrat zum Fabrikgesetz 1880, BBl 1880 III 96, Seite 97 ff.
[24] Kreisschreiben Bundesrat zum Fabrikgesetz 1880, BBl 1880 III 96, Seite 98
[25] Kreisschreiben Bundesrat zum Fabrikgesetz 1880, BBl 1880 III 96, Seite 99
[26] Kreisschreiben Bundesrat zum Fabrikgesetz, 1880, BBL 1880 III 96, Seite 100
[27] Kreisschreiben Bundesrat zum Fabrikgesetz 1880, BBl 1880 III 96, Seite 100
[28] Kreisschreiben Bundesrat zum Fabrikgesetz 1880, BBl 1880 III 96, Seite 97
[29] Kreisschreiben Bundesrat zum Fabrikgesetz 1880, BBl 1880 III 96, Seite 98/99
[30] Kreisschreiben Bundesrat zum Fabrikgesetz 1880, BBl 1880 III 96, Seite 101
[31] Botschaft 1910, BBl 1910 III 575
[32] Botschaft 1910, BBl 1910 III 575, Einleitungssatz, Seite 575
[33] Botschaft 1910, BBl 1910 III 575, Seite 576/577
[34] Botschaft 1910, BBl 1910 III 575, Seite 588
[35] Botschaft 1910, BBl 1910 III 575, Seite 586
[36] Botschaft 1910, BBl 1910 III 575, Seite 645
[37] Vgl. Botschaft 1910, BBl 1910 III 575, Seite 643-650
[38] Botschaft 1910, BBl 1910 III 575, Seite 650
[39] Botschaft 1910, BBl 1910 III 575, Seite 576
[40] Botschaft 1910, BBl 1910 III 575, Seite 650/651