Blog 23: September 2023
StPO von A-Z: Anklagegrundsatz – Arbeitsteilung zwischen Anklagebehörde und Strafgericht
Der Anklagegrundsatz ist ein wichtiger Baustein des modernen Strafprozesses. Er betrifft das Verhältnis zwischen Strafgerichten und den Staatsanwaltschaften.
Der nachfolgende Blogbeitrag beschreibt anhand eines nicht erfundenen Beispiels den Grundsatz und seine Auswirkungen.
Der Fall:
Will Zahnder, geb. 24. August 1945, lebt in einer Stadt in der Schweiz. Er muss sich für eine Behandlung ins Spital begeben. Franz Zahnder, geb. 28. Mai 1950, lebt in der gleichen Stadt und begibt sich zur gleichen Zeit für eine Behandlung ins gleiche Spital. Vorsorglich werden Blutkonserven für beide Patienten bereitgestellt. Aufgrund eines Fehlers der Laborantinnen X. und Y. werden beide falsch beschriftet. Im Kühlschrank liegen deshalb zwei Blutkonserven, die mit "Willi Zahnder, geb. 28. Mai 1950" angeschrieben sind. Einen Willi Zahnder mit diesem Geburtsdatum gibt es nicht.
Franz Zahnder benötigt keine Blutkonserven. Bei Willi Zahnder hingegen ergeben sich Komplikationen, weshalb eine der beiden im Kühlschrank lagernden Konserven von der Pflegefachfrau W. geholt werden. Sie prüft den angeschriebenen Namen, nicht jedoch das aufgedruckte Geburtsdatum und bemerkt deshalb nicht, dass sie eine nicht für ihren Patienten bestimmte Blutkonserve mitnimmt. In der Folge erhält Willi Zahnder das nicht für ihn bestimmte Blut und stirbt.
Es kommt zu einer Strafuntersuchung und zu einer Anklage gegen die beiden Laborantinnen X. und Y. Nicht angeklagt wird die Pflegefachfrau W, weil die Staatsanwaltschaft keine Vorschrift findet, wonach eine Blutkonserve aufgrund von Namen, Vornamen und Geburtsdatum geprüft werden müsse und daher keine Pflichtverletzung sieht. Die von der Staatsanwaltschaft verfügte Einstellung des Verfahrens gegen die Pflegefachfrau wird rechtskräftig.
Als das Strafgericht Anklageschrift und Akten zugestellt bekommt, sind die Richterinnen und Richter erstaunt. Sie möchten mögliche Verfehlungen der Pflegefachfrau ebenfalls beurteilen können, um ein als gerecht empfundenes Urteil gegen die beiden Laborantinnen fällen zu können.
In diesem Beitrag wird beleuchtet, ob und welche rechtlichen Möglichkeiten das Gericht hat, die Pflegefachfrau als Angeklagte ins Verfahren einzubeziehen.
Die Rechtslage:
Nach Art. 16 StPO leitet die Staatsanwaltschaft das Vorverfahren, die Untersuchung und sie vertritt die Anklage. Nach Art. 19 StPO beurteilt das erstinstanzliche Gericht alle Straftaten, die nicht in die Zuständigkeit anderer Behörden fallen.
Die Strafprozessordnung geht also von einer Arbeitsteilung aus: Die Staatsanwaltschaft leitet die gesamte Untersuchung. Nach deren Abschluss stellt sie entweder das Verfahren ein (Art. 319/320 StPO) oder erhebt Anklage (Art. 324 StPO). Mit der Anklageerhebung wird das Strafverfahren beim Gericht rechtshängig (Art. 328 Absatz 1 StPO) und die Verfahrensleitung geht von der Staatsanwaltschaft auf das Gericht über (Art. 328 Absatz 2 StPO).
Kern der Anklageerhebung ist eine Anklageschrift, deren Inhalt im Gesetz detailliert geregelt wird (Art. 325 StPO). Sie wird von der Staatsanwaltschaft dem Gericht zusammen mit den Strafakten eingereicht. Das Vorgehen der Staatsanwaltschaft und die Bedeutung der Anklageschrift beschreibt der Bundesrat in der „Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts vom 21. Dezember 2005» [1] wie folgt: «Die Anklage wird ohne Umweg über ein separates Anklagezulassungsverfahren dem erstinstanzlichen Gericht eingereicht. Je nach Schwere des zu beurteilenden Falles kann dies auch ein Einzelgericht sein. Das Gericht prüft die Ordnungsmässigkeit der Anklage und der Akten (Art. 330) und setzt die Hauptverhandlung an (Art. 332). Die konkrete Ausgestaltung der Hauptverhandlung hängt wesentlich von der in der Anklage beantragten Sanktion ab: (…) (Art. 345).» (BBl 2006 1085, Seite 1116). Die in der Anklageschrift umschriebenen Taten, die nach der Anklageschrift erfüllten Tatbestände und die Anträge der Staatsanwaltschaft zur auszufällenden Strafe sind demnach für das Verfahren vor dem erstinstanzlichen Strafgericht entscheidend. Die beschuldigte Person, die Beschreibung der zu beurteilenden Tat und die nach Auffassung der Staatsanwaltschaft erfüllten Tatbestände müssen in die Anklageschrift aufgenommen werden (Art. 325 Absatz 1 lit. d, f und g StPO) Die beantragte Strafe kann auch mündlich an der Verhandlung vorgebracht werden. Die wesentlichsten Angaben aber müssen in die Anklageschrift.
Ihre Bedeutung zeigt sich in der Formulierung von Art. 9 Absatz 1 StPO. Unter dem Randtitel «Anklagegrundsatz» ist zu lesen: «Eine Straftat kann nur gerichtlich beurteilt werden, wenn die Staatsanwaltschaft gegen eine bestimmte Person wegen eines genau umschriebenen Sachverhalts beim zuständigen Gericht Anklage erhoben hat.». Die bereits erwähnte Botschaft des Bundesrates zur Vereinheitlichung des Strafrechts von 2005 [2] beschreibt die Bedeutung von Art. 9 StPO wie folgt: «Der moderne Strafprozess ist ein Anklageprozess. Er kann, abgesehen vom Strafbefehls- und Übertretungsstrafverfahren (Art. 355 ff., 361 ff.), nur durchgeführt werden, wenn eine vom urteilenden Gericht getrennte Behörde zunächst im Rahmen eines Vorverfahrens die relevanten Fakten und Beweise zusammengetragen und anschliessend die Deliktsvorwürfe in einer Anklageschrift dem Gericht zur Beurteilung unterbreitet hat (Anklage- oder Akkusationsprinzip). Dieses kann nur über die in der Anklageschrift enthaltenen Vorwürfe urteilen; die Anklage kann im Gerichtsverfahren grundsätzlich nicht mehr geändert werden (Immutabilitätsgrundsatz); Ausnahmen sind in Artikel 334 vorgesehen.» [3].
Die in der Botschaft genannten Ausnahmen in Art. 334 des Entwurfs finden sich im vom Parlament beschlossenen Text der StPO in den Art. 329 und 333: Demnach prüft das Gericht die Anklageschrift und die Akten und weist die Anklage an die Staatsanwaltschaft zurück, wenn es findet, die Anklage müsse ergänzt oder berichtigt werden (Art. 329 Absatz 2 StPO). Das Gericht kann der Staatsanwaltschaft überdies Gelegenheit geben, die Anklage zu ändern (Art. 333 Absatz 1 StPO) oder unter bestimmten Umständen zu ergänzen (Art. 333 Absatz 2 StPO). Der Bundesrat schildert die Gründe für seinen Vorschlag in seiner Botschaft bei der Erläuterung von Art. 334 StPO. Dabei verwendet er ein Beispiel, das hier zitiert werden soll. Die Hervorhebungen sind für unseren Fall wichtig, finden sich aber nicht im Originaltext:
«Die Darlegung des Sachverhaltes und die rechtliche Beurteilung in der Anklageschrift stehen in einer Wechselwirkung zueinander: Die Staatsanwaltschaft wird zu jenen Sachverhaltselementen Ausführungen machen, durch welche die Tatbestandselemente der verletzten Norm erfüllt werden. Weil die Abgrenzung verschiedener Tatbestände mitunter sehr schwierig ist, kann es vorkommen, dass eine Anklageschrift den Sachverhalt bloss bezogen auf einen Tatbestand darlegt, eine Darstellung jener Elemente jedoch fehlt, mit denen sich der an sich gleiche Sachverhalt unter einen andern Tatbestand subsumieren liesse. Beispiel: Die beschuldigte Person ist wegen qualifizierter Veruntreuung angeklagt. Nach Auffassung des Gerichts liesse sich das Verhalten auch unter dem Aspekt des Betruges rechtlich würdigen. Es versteht sich, dass die Anklageschrift beispielsweise nicht umschreibt, durch welches Verhalten sich die beschuldigte Person arglistig verhalten haben soll. Damit fehlt ein Sachverhaltselement, welches für die rechtliche Beurteilung des Verhaltens als Betrug notwendig ist. Absatz 1 gestattet es in dieser Situation dem Gericht, die Staatsanwaltschaft zur Änderung der Anklageschrift einzuladen. Dabei ist der Staatsanwaltschaft eine Frist anzusetzen. Die Staatsanwaltschaft ist zur Änderung der Anklage allerdings nicht verpflichtet.
Absatz 2 lässt ein Abweichen vom strengen Immutabilitätsgrundsatz (Art. 9 Abs. 1) zu und erlaubt eine Ergänzung der Anklage. Vorausgesetzt ist, dass neue Straftaten der beschuldigten Person während des Hauptverfahrens bekannt werden.» [4].
Art. 329 Absatz 2 StPO und Art. 333 Absatz 1 StPO erlauben also dem Gericht die Staatsanwaltschaft zur Berichtigung oder Änderung der Anklage einzuladen, aber nicht, sie dazu anzuweisen. Bei der Erweiterung der Anklage nach Art 333 Absatz 2 StPO muss ein Antrag der Staatsanwaltschaft vorliegen, über den das Gericht entscheiden kann. Auch für einen solchen Antrag kann das Gericht der Staatsanwaltschaft keine Weisungen erteilen; der in Art. 9 StPO verankerte Anklagegrundsatz verbietet das.
Die Subsumtion (Anwendung auf den konkreten Fall)
In unserem Falle haben wir zu prüfen, ob das Gericht gestützt auf Art. 333 StPO die Staatsanwaltschaft anweisen kann, auch die Pflegefachfrau anzuklagen um ein vom Gericht als gerecht empfundenes Urteil zu ermöglichen. Das in Art. 9 StPO festgelegte Anklageprinzip und der Wortlaut von Art. 333 StPO verhindern, dass das Gericht die Anklageschrift selber ändern oder ergänzen darf. Auch kann es der Staatsanwaltschaft keine Weisungen für eine Ergänzung geben. Das ergibt sich aus den in Art. 9 StPO festgelegten Grundsätzen; die Botschaft des Bundesrates bestätigt diese Auffassung. Das Gericht darf folglich nur das Verhalten der beiden Laborantinnen unter strafrechtlichen Gesichtspunkten beurteilen. Empfindet es eine Verurteilung als ungerecht, wenn nicht auch die Pflegefachfrau zur Verantwortung gezogen wird, dann bleibt ihm nur, die beiden Laborantinnen freizusprechen.
Zürich, 07. Juni 2023 / T. Gattlen
[1] BBl 2006 1085, Seite 1116
[2] BBl 2006 1085, Seite 1132
[3] BBl 2006 1085, Seite 1132
[4] BB. 2006 1085, Seiten 1280/1281