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Blog 25: Oktober 2023

StPO von A-Z: Opfer – Bedeutung nach der StPO

In der geltenden StPO findet sich in verschiedenen Bestimmungen (z.B. Art. 68, 70, 74, 116, 117, 152, 153) der Begriff «Opfer».

Es stellt sich die Frage, was die StPO darunter versteht und welche besondere Stellung im Strafverfahren ein «Opfer» hat. Der Beitrag versucht diese Fragen zu klären.

 

Die Ausgangslage:

Mit Datum vom 25. April 1990 legte der Bundesrat dem Parlament die «Botschaft zu einem Bundesgesetz über die Hilfe an Opfer von Straftaten (Opferhilfegesetz, OHG) und zu einem Bundesbeschluss über das Europäische Übereinkommen über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten» vor.»  [1] Anlass für die Schaffung eines neuen Gesetzes war die Annahme von Art. 64ter der Bundesverfassung durch Volk und Stände am 2. Dezember 1984. Der Bund und die Kantone erhielt damit den Auftrag dafür zu sorgen, dass Opfer schwerer Straftaten wirksame Hilfe erhalten. Die Opferhilfe sollte dafür sorgen, dass solche Opfer Beratung und Unterstützung erhalten und ihnen der Staqt eine vom Täter nicht erhältlich zu machende Entschädigung und Genugtuung ausrichtete. Eine wichtige weitere Säule der Hilfe war der Schutz des Opfers und die Wahrung seiner Rechte im Strafverfahren. [2]

Die Vereinheitlichung des Strafprozessrechts in der Schweiz folgte erst mehr als 15 Jahre später durch die Annahme einer schweizerischen Strafprozessordnung mit Beschluss des Parlaments vom 5. Oktober 2007. Mit dem Vorschlag des Bundesrates zur Schaffung eines Opferhilfegesetzes waren im Falle der Annahme erhebliche Eingriffe in das damals noch kantonale Strafprozessrecht verbunden.

Der Vorschlag des Bundesrates enthielt bereits in Art. 2 des Entwurfs eine Erklärung des Begriffs «Opfer». Die Bestimmung im Entwurf lautete:

 

Art. 2 Geltungsbereich

1 Hilfe nach diesem Gesetz erhält jede Person, die durch eine Straftat in ihrer körperlichen und psychischen Integrität unmittelbar beeinträchtigt worden ist, und zwar unabhängig davon, ob der Täter ermittelt worden ist und ob er sich schuldhaft verhalten hat (Opfer).

2 Der Ehegatte des Opfers, dessen Kinder und Eltern sowie andere Personen, die ihm in ähnlicher Weise nahestehen, werden dem Opfer gleichgestellt bei:

  1. der Beratung (2. Abschnitt),
  2. der Geltendmachung von Verfahrensrechten und Zivilansprüchen (Art. 8 und 9), soweit ihnen Zivilansprüche gegenüber dem Täter zustehen, und
  3. der Geltendmachung von Entschädigung und Genugtuung (4. Abschnitt),

soweit ihnen Zivilansprüche gegenüber dem Täter zustehen. [3]

 

Erläutert wurde diese Definition in der Botschaft: «Absatz l umschreibt die objektiven Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des Gesetzes. Danach muss eine Person durch eine Straftat in ihrer körperlichen und psychischen Integrität unmittelbar beeinträchtigt worden sein. Zu den in Frage kommenden Beeinträchtigungen zählen Tötung, Körperverletzung, psychische Schädigung sowie Beeinträchtigungen der Gesundheit. (…)

Nicht erforderlich ist, dass der Täter strafrechtlich verfolgt oder verurteilt worden ist, noch dass er bekannt oder identifiziert ist. Ebenfalls ohne Bedeutung für die Anwendbarkeit ist es, ob der Täter vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt hat oder ob er strafrechtlich gesehen ganz oder teilweise zurechnungsunfähig ist. Jedoch wird vorausgesetzt, dass die objektiven Tatbestandselemente einer Straftat vorliegen. Dies kann entweder aus einem Strafurteil hervorgehen oder, wenn ein solches fehlt, von der Entschädigungsbehörde festgestellt werden, welche in diesem Fall selbst die nötigen Abklärungen vorzunehmen hat. Mit der Präzisierung, dass es sich um eine unmittelbare Beeinträchtigung handeln muss, will das Gesetz Beeinträchtigungen ausschliessen, die beispielsweise auf Ehrverletzungsdelikte, Tätlichkeiten, Diebstahl oder Betrug zurückgehen und die lediglich mittelbare Folge der Straftat sind. (…)Andererseits kann davon ausgegangen werden, dass insbesondere die strafbaren Handlungen gegen Leib und Leben (mit Ausnahme der Tätlichkeiten), Raub, die Verbrechen und Vergehen gegen die Freiheit, die strafbaren Handlungen gegen die Sittlichkeit (mit Ausnahme der Verletzung der öffentlichen Sittlichkeit) sowie die Blutschande, soweit eine Beeinträchtigung der phsychischen Integrität vorliegt, und einige weitere Delikte, darunter der Landfriedensbruch in der Regel unter das Gesetz fallen.» [4]

Neben dem Opfer selbst waren nach Absatz 2 des Vorschlages des Bundesrates auch «… Ehepartner, die Kinder, die Eltern sowie alle Personen, welche mit dem Opfer im konkreten Fall in vergleichbar enger Beziehung wie die erwähnten Verwandten stehen (z. B. Geschwister, Lebensgefährtinnen oder -gefährten, enge Freundinnen oder Freunde).» [5] durch das Gesetz zu schützen. Im Bereich der Beratungen ohne Einschränkungen, in den übrigen Bereichen nur, «soweit die betroffenen Personen selber zivilrechtliche Ansprüche gegenüber dem Täter haben, die auf eine Beeinträchtigung der eigenen Person oder auf Rechtsnachfolge beruhen. (…)

Hervorzuheben sind dabei vor allem Ehepartner und Kinder des Opfers, die einen Versorgerschaden geltend machen.» [6]

Die Definition des «Opfers» in Absatz 1 nach dem Entwurf des Bundesrates wurde unverändert übernommen; der Absatz 2 wurde mit für unsere Fragestellung unbedeutenden Änderungen genehmigt.[7] Die Überlegungen des Bundesrates in seiner Botschaft gelten daher auch für das schliesslich beschlossene Gesetz. Die nachfolgenden Revisionen des Gesetzes berührten die Definitionen nicht.

 

Die Übernahme des Begriffs «Opfer» in die StPO:

Im Entwurf des Bundesrats für die schweizerische Strafprozessordnung [8] fand sich ein besonderer Abschnitt «Opfer», darin die Definition in Art. 114 und die damit einhergehenden besonderen Rechte in Art. 115. Die Botschaft erläuterte diesen Abschnitt wie folgt:

«Seit der Schaffung des Opferhilfegesetzes vom 4. Oktober 1991246 (OHG) nimmt das Opfer eine besondere Stellung im schweizerischen Strafverfahrensrecht ein. Nach Artikel 114 Absatz 1, der insofern Artikel 2 Absatz 1 OHG übernimmt, gilt als Opfer die geschädigte Person, die durch eine Straftat in ihrer körperlichen, sexuellen oder psychischen Integrität unmittelbar beeinträchtigt worden ist. Der Begriff des Opfers ist somit enger als jener der geschädigten Person: jedes Opfer ist auch geschädigte Person, aber nicht jede geschädigte Person ist auch Opfer.» [9]

Man hatte also die Definition für «Opfer» aus Art. 2 Absatz 1 OHG übernommen. Das «Opfer» hatte nach der StPO alle Rechte eines oder einer Geschädigten, darüber hinaus aber noch besondere in der StPO ausdrücklich genannte Rechte.

Die gesetzgebenden Räte übernahmen den Vorschlag des Bundesrates zu Art. 114 des Entwurfs unverändert in Art. 116 StPO. Art. 115 des Entwurfs wurde ergänzt und als Art. 117 in die StPO übernommen.

 

Zürich, 9. Juni 2023 / T. Gattlen

[1] BBl 1990 II 961
[2] BBl 1999 II 961, Seite 962
[3] BBl 1990 II 961, Seite 1009
[4] BBl 1990 II 961 Seiten 977/978
[5] BBl 1990 II 961 Seite 978
[6] BBl 1990 II 961, Seite 977/978
[7] AS 1991 III 1462-1475
[8] BBl 2006 1389
[9] BBl 2006 1085 Seiten 1170/1171