Blog 26: Oktober 2023
StPO von A-Z: Opfer – die besonderen Rechte des Opfers
In der geltenden StPO findet sich in verschiedenen Bestimmungen (z.B. Art. 68, 70, 74, 116, 117, 152, 153) der Begriff «Opfer».
Es stellt sich die Frage, welche besondere Stellung im Strafverfahren ein «Opfer» hat. Dieser Beitrag versucht die Frage zu klären.
Rechte des Opfers:
Der Begriff «Opfer» wird für den Anwendungsbereich der Strafprozessordnung in Art. 116 StPO definiert. Welche besonderen Rechte ein Opfer hat, listet Art. 117 StPO auf.
Die Botschaft des Bundesrates zum Entwurf einer schweizerischen Strafprozessordnung [1] erklärte die auf ein Opfer anwendbaren Regeln wie folgt:
«Aus dem Gesagten folgt, dass das Opfer zunächst alle der geschädigten Person zustehenden Rechte geltend machen kann. Wenn dieser Entwurf von Rechten der geschädigten Person spricht, ist damit also auch das Opfer gemeint. Das Opfer wird nur und immer dann besonders erwähnt, wenn ausschliesslich ihm zustehende, besondere Verfahrensrechte angesprochen werden. Diese besonderen Rechte sind im Sinne einer – nicht abschliessenden – Übersicht bereits an dieser Stelle zusammengestellt.» [2]
Ein Opfer hat nach der StPO also zunächst einmal alle dem oder der Geschädigten zustehenden Rechte. Dazu kommen jene Rechte, die der Gesetzgeber speziell zugunsten eines Opfers ins Gesetz aufgenommen hat. Unter diesen Rechten gibt es solche, die nur den Opfern von Straftaten gegen die sexuelle Integrität zustehen und solche, die nur Opfern zustehen, die bei der Tatbegehung weniger als 18 Jahre alt waren.
Besondere Rechte des Opfers:
Die besonderen Rechte eines Opfers werden in Art. 117 StPO aufgelistet. Die Auflistung ist nicht abschliessend, was dahingehend zu verstehen ist, dass das versehentliche Fehlen eines besonderen Rechtes in Art. 117 StPO nichts an einer Anerkennung durch den Gesetzgeber ändert, und dass die Zulassung besonderer Rechte eines Opfers durch die Rechtsprechung nicht gehindert werden soll.
Art. 117 StPO listet die folgenden besonderen Rechte eines Opfers auf:
Recht auf Persönlichkeitsschutz (Art. 70 Abs. 1 Bst. a, 74 Abs. 4, 152 Abs. 1): Die Öffentlichkeit kann zum Schutz des Opfers von einem Gerichtsverfahren ausgeschlossen werden, der Namen des Opfers darf ausserhalb eines öffentlichen Gerichtsverfahrens nicht bekanntgegeben werden, und eine Begegnung des Opfers mit der beschuldigten Person ist mit geeigneten Massnahmen zu verhindern.
Recht auf Begleitung durch eine Vertrauensperson (Art. 70 Abs. 2, 152 Abs. 2): Eine Vertrauensperson soll dem Opfer die Mitwirkung im Strafverfahren erleichtern.
Recht auf Schutzmassnahmen (Art. 152–154): Hier ist beispielhaft an die Befragung des Opfers zu denken, das sich nicht im gleichen Raum, wie die beschuldigte Person aufhält, wobei die Befragung übertragen wird.
Recht auf Aussageverweigerung (Art. 169 Abs. 4): Das Opfer einer Straftat gegen die sexuelle Integrität kann die Aussage zu allen Fragen verweigern, die seine Intimsphäre betreffen, obwohl Zeugen im Allgemeinen zu Aussagen verpflichtet sind (vgl. art. 163 StPO)
Recht auf Information (Art. 305 und 330 Abs. 3): Opfer sind über Hilfs- und Beratungsmöglichkeiten sowie ihre Rechte im Strafverfahren sowohl im Rahmen der Untersuchung als auch im Rahmen der Verhandlung zu informieren.
Recht auf eine besondere Zusammensetzung des Gerichts (Art. 335 Abs. 4): Bei Straftaten gegen sie sexuelle Integrität darf das Opfer verlangen, dass mindestens eines der Mitglieder des Gerichts das gleiche Geschlecht des Opfers hat.
Besondere Rechte eines Opfers unter 18 Jahren:
Ist ein Opfern unter 18 Jahren kommen darüber hinaus die Bestimmungen zum Schutz der Persönlichkeit zur Anwendung. So gibt es weitere Einschränkungen bei der Gegenüberstellung mit der beschuldigten Person und auf die Befragung die von Kindern ist unter Umständen vollständig zu verzichten. Verlangt es das Interesse eines Opfers unter 18 Jahren, darf mit seinem Einverständnis ein Strafverfahren eingestellt werden, obwohl die allgemeinen Voraussetzungen dafür nicht erfüllt sind.
Zulässig sind Einschränkungen im Zusammenhang mit der Gegenüberstellung mit der beschuldigten Person (Art. 154 Abs. 4); auf diese ist unter Umständen zu verzichten. Das Gesetz kennt besondere Schutzmassnahmen bei Einvernahmen von Kindern, die Opfer einer Straftat geworden sind.
Liegt es im Interesse des Opfers, das weniger als 18 Jahre alt ist, dann kann ein Strafverfahren unter Umständen eingestellt werden, auch wenn die Bedingungen einer Einstellung an sich nicht erfüllt sind, sofern das Opfer zustimmt (Art. 319 Absatz 2 StPO).
Zürich, 9. Juni 2023 / T. Gattlen