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Blog 27: Oktober 2023

StPO von A-Z: System der Strafverfolgung

Die Schweizerische Strafprozessordnung wurde am 5. Oktober 2007 vom Parlament beschlossen. Sie trat 1. Januar 2011 in Kraft. In dieser Zeit hatten die Kantone die Organisation ihrer Strafverfolgungsbehörden dem neuen Recht anzupassen.

Für die meisten Kantone bedeuteten die Anpassungen eine grundlegende Änderung ihrer Organisation im Bereich der Strafverfolgung. Dieser Beitrag beschreibt die durch die StPO nötig gewordenen Änderungen.

 

Die Ausgangslage:

Der Vorschlag zur Vereinheitlichung des Schweizerischen Strafprozessrechts findet sich in einer Botschaft des Bundesrates an die eidgenössischen Räte. Darin beschreibt der Bundesrat die Ausgangslage, die vorgesehene Zielrichtung eines neuen Gesetzes und er erläutert die von ihm vorgeschlagenen einzelnen Bestimmungen des Entwurfs. Die Schweizerische Strafprozessordnung beruht auf dem Vorschlag des Bundesrates in der «Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts vom 21. Dezember 2005» [1]. Zu den vorgesehenen organisatorischen Änderungen führte der Bundesrat aus: «Die Vereinheitlichung des Verfahrensrechts bedingt nicht zwingend auch eine Vereinheitlichung der gesamten Gerichtsorganisation. Diese ist denn auch von Verfassungs wegen grundsätzlich nach wie vor den Kantonen überlassen (Art. 123 Abs. 2 BV). Auf der anderen Seite ist eine Vereinheitlichung des Verfahrens ohne gewisse organisatorische Grundentscheide nicht möglich. So gehören zu einem einheitlichen Prozessrecht ein einheitliches Strafverfolgungsmodell, eine einheitliche Umschreibung der sachlichen Zuständigkeit der Strafgerichte sowie ein einheitliches Rechtsmittelsystem.» [2]

In der Botschaft werden die vier in der Schweiz bis zum Inkrafttreten der StPO bestehenden Grundmodelle der Strafverfolgung in Ziffer 1.5.2.1. beschrieben:

«Im Untersuchungsrichtermodell I wird die Untersuchung durch eine unabhängige Untersuchungsrichterin oder einen unabhängigen Untersuchungsrichter geführt. Ihr oder ihm ist auch die gerichtliche Polizei unterstellt, so dass die Aufteilung in Ermittlung und Untersuchung entfällt. (…) die Untersuchungsrichterin oder der Untersuchungsrichter eröffnet das Verfahren von sich aus, und die Kriminalpolizei ist von ihren Weisungen abhängig. Die Staatsanwaltschaft hat den Untersuchungsrichterinnen und Untersuchungsrichtern keine Weisungen zu erteilen; sie erscheint im Vorverfahren lediglich als Partei. Sie hat nach dessen Abschluss die Anklage zu formulieren und vor den Gerichten zu vertreten. Insgesamt 5 kantonale Verfahrensrechte lassen sich heute noch diesem System zuordnen. (…)

Dem Untersuchungsrichtermodell II werden heute 10 Kantone zugerechnet. Im Vorverfahren sind Untersuchungsrichterinnen und Untersuchungsrichter sowie die Staatsanwaltschaft tätig. Die Untersuchungsrichterinnen und Untersuchungsrichter sind jedoch im Unterschied zum Untersuchungsrichter-Modell I von der Staatsanwaltschaft nicht unabhängig, sondern dieser gegenüber weisungsgebunden. Das Mass dieser Weisungsgebundenheit ist in Gesetz und Praxis der einzelnen Kantone unterschiedlich. (…)

Für das aus dem französischem Recht stammende Staatsanwaltschaftsmodell I ist die Intervention eines unabhängigen Juge d’instruction sowie die Zweigliedrigkeit des Verfahrens typisch; in letzterem unterscheidet es sich vom Untersuchungsrichtermodell I: Vor Einschaltung des Untersuchungsrichteramtes führt die Kriminalpolizei unter Führung der Staatsanwaltschaft die Ermittlungen durch. Danach erteilt die Staatsanwaltschaft den unabhängigen Untersuchungsrichterinnen und Untersuchungsrichtern einen Auftrag zur Durchführung der Untersuchung. (…)

Charakteristisch für das Staatsanwaltschaftsmodell II ist das Fehlen einer Untersuchungsrichterin oder eines Untersuchungsrichters. Die Staatsanwaltschaft ist Leiterin des – naturgemäss eingliedrigen – Vorverfahrens, steht also dem polizeilichen Ermittlungsverfahren vor, führt die Untersuchung, erhebt die Anklage und vertritt diese vor den Gerichten. Üblicherweise leitet sie auch die Kriminalpolizei oder ist dieser gegenüber weisungsberechtigt. Durch die Einheitlichkeit von Ermittlung, Untersuchung und Anklageerhebung soll ein hoher Grad an Effizienz in der Strafverfolgung erreicht werden. Als Gegengewichte wirken Massnahmen, die einen Ausgleich zur starken Stellung der Staatsanwaltschaft schaffen sollen, namentlich ein Zwangsmassnahmengericht und ausgebaute Verteidigungsrechte. Nachdem in den letzten Jahren 4 Kantone zu diesem System gewechselt haben, wird es heute in 6 Kantonen praktiziert. Der Bundesrat schlägt es auch für die neue Schweizerische Strafprozessordnung vor.» [3].

Entschieden hat sich der Gesetzgeber auf Vorschlag des Bundesrates für das als am effizientesten beurteilten System: das Staatsanwaltschaftsmodell II. Demnach sollte für die Strafverfolgung eine einzige Behörde eingesetzt werden, die die Strafverfolgung leitet, die Anklage erhebt und bei Gericht als Anklägerin auftritt; eine Aufteilung dieser Funktionen auf verschiedene, einander kontrollierende Behörden war nach Inkrafttreten der StPO nicht mehr zulässig. Die gewünschte Effizienz der Strafverfolgung war naturgemäss mit einer starken Stellung der Staatsanwaltschaft verbunden, weshalb ihre Tätigkeit nach dem Vorschlag des Bundesrates von einem Zwangsmassnahmengericht kontrolliert werden und von gut ausgebauten Verteidigungsrechte begleitet sein sollte. Nur eine knappe Mehrheit der Kantone (15 gegen 11) und nur ca. 60 Prozent der Vernehmlassungsbeiträge befürworteten das vom Bundesrat vorgeschlagene Modell [4].

 

Die Überlegungen zur Organisation der Strafbehörden:

In der Botschaft des Bundesrates wurde zunächst ein Begriff geklärt: «Strafbehörde» steht als Oberbegriff für die im Bereich der Strafverfolgung tätigen eidgenössischen und kantonalen Behörden.» [5], also vor allem Staatsanwaltschaften und Strafgerichte.

Wie bereits beschrieben war der Eingriff in die Organisation der kantonalen Strafbehörden durch die StPO einschneidend; nur in sechs Kantonen wurde das auf Vorschlag des Bundesrates einzuführende Modell der Strafverfolgung bereits praktiziert. Die meisten Kantone mussten ihre Organisation deshalb grundlegend ändern. Der Bundesrat beschrieb die den Kantonen nach dem Entwurf zur StPO bleibenden Freiheiten in der Organisation ihrer Strafverfolgungsbehörden wie folgt:

«Der Entwurf beschränkt sich auf ein Grobraster, die nähere Regelung bleibt Bund und Kantonen überlassen. Diese Gestaltungsfreiheit im Bereich der Gerichtsorganisation konkretisiert sich im Wesentlichen in folgenden Bestimmungen:

–   Artikel 14 Absatz 1 überlässt es Bund und Kantonen, welche Behörden die Funktionen der in Artikel 12 und 13 aufgelisteten Strafbehörden zu übernehmen haben und welche Bezeichnungen sie tragen sollen. Bund und Kantone können beispielsweise den Kreis der Beamtinnen und Beamten festlegen, die in der Strafverfolgung tätig werden; sie können die Funktionen der Staatsanwaltschaft einem Untersuchungsrichter- oder Verhöramt, jene der Übertretungsstrafbehörde einem Statthalteramt oder einer Präfektur, jene des erstinstanzlichen Gerichts einem Amts-, Kreis- oder Bezirksgericht zuweisen. Gestützt auf diese Bestimmung können sie ferner etwa das Berufungsgericht als Kantons-, Ober- oder Appellationsgericht bezeichnen. (…)

–   Mit Ausnahme der Beschwerdeinstanz und des Berufungsgerichts können Bund und Kantone mehrere gleichartige Behörden einsetzen. In diesem Fall bezeichnen sie im Rahmen der Gerichtsstandsbestimmungen dieses Gesetzes deren sachliche und örtliche Zuständigkeit (Art. 14 Abs. 4). Bei Kollegialgerichten bestimmen sie auch die Grösse der Spruchkörper (Art. 14 Abs. 2).

–   Der zentrale Artikel 14 Absatz 2 sieht vor, dass Bund und Kantone auch Vorschriften zu Wahl, Zusammensetzung, Organisation und Befugnissen der Strafbehörden erlassen, soweit dafür Raum bleibt. So können etwa die erstinstanzlichen Gerichte dezentral organisiert werden, und es können ihnen spezialisierte Aufgabenbereiche zugewiesen werden. Analoges gilt für die Organisation der Staatsanwaltschaft. Hier hält Artikel 14 Absatz 3 ausdrücklich fest, dass Bund und Kantone Ober- oder Generalstaatsanwaltschaften vorsehen können Dadurch wird auch ein dreistufiger Aufbau möglich, in dem Sinn, dass z.B. die Staatsanwältinnen und Staatsanwälte einer bestimmten Region einer Oberstaatsanwältin oder einem Oberstaatsanwalt, diese wiederum der kantonalen Generalstaatsanwaltschaft unterstellt sind. Die Freiheiten in der Regelung von Organisation und Befugnissen der Strafbehörden würde auf Stufe Staatsanwaltschaft an sich auch die Möglichkeit eröffnen, zwischen nur ermittelnden und nur anklagenden Mitgliedern zu unterscheiden. Es liegt jedoch auf der Hand, dass eine solche Funktionstrennung, zumindest wenn sie systematisch verwirklicht würde, nicht dem Grundkonzept des Staatsanwaltschaftsmodells, wie es künftig in der Schweiz gelten soll, entspräche. Wesentliche Vorteile dieses Modells gingen auf diese Weise verloren.

–   In Ergänzung zu Artikel 14 Absatz 2 überlässt es Absatz 5 Bund und Kantonen, auf welche Weise sie, unter Beachtung des Grundsatzes der Unabhängigkeit (Art. 4) – die Aufsicht über ihre Strafbehörden regeln wollen.

–   Bund und Kantonen wird bei gewissen Strafbehörden die Wahl gelassen, ob sie solche überhaupt schaffen oder aber deren Aufgaben einer andern Behörde zuweisen wollen. In diesem Sinne ist etwa nach Artikel 17 Absatz 1 die Schaffung einer (oder mehrerer) Übertretungsstrafbehörden fakultativ.

–   Es steht den Kantonen auch frei, gemeinsame richterliche Behörden einzusetzen; diese Möglichkeit wird künftig in Artikel 191b Absatz 2 BV ausdrücklich vorgesehen sein. Verschiedene kleinere Kantone könnten z.B. gemeinsame Wirtschaftsstrafgerichte oder gemeinsame Jugendgerichte vorsehen.» [6]

Die Kantone hatten ihre Behörden nach dem von der StPO festgelegten Modell der Strafverfolgung zu organisieren. Frei waren sie in Bezug auf die Benennung dieser Behörden, der geografischen Aufteilung ihrer Zuständigkeit und der Schaffung einer besonderen Aufsicht, z.B. durch die Schaffung einer Oberstaatsanwaltschaft. Die Wahl, die Zusammensetzung und der organisatorische Aufbau bestimmten ebenfalls die Kantone. Nichts verändern durften sie aber an der grundsätzlichen Struktur der Strafverfolgung: Die Staatsanwaltschaften hatten das Strafverfahren zu führen, Anklage zu erheben und diese bei Gericht zu vertreten.

Die damit einhergehende Machtfülle ist vom Gesetzgeber gewollt. Einzelne Kantone haben allerdings versucht, eine gewisse Kontrolle der Staatsanwaltschaften zu etablieren, wenn die Regelungen der StPO vom kantonalen Gesetzgeber als nicht optimal angesehen wurden. So obliegt es nach Art. 132 StPO der Staatsanwaltschaft als Verfahrensleiterin einen amtlichen Verteidiger oder eine Verteidigerin zu bestellen, sich also ihren Gegenspieler oder ihre Gegenspielerin selber auszusuchen. Wegen sich offensichtlich aufdrängender Bedenken gegen diese Regelung hat der Kanton Zürich die Aufgabe der Bestellung des amtlichen Verteidigers oder der Verteidigerin einem Büro übertragen, das der Oberstaatsanwaltschaft angegliedert ist.

 

Die Strafverfolgungsbehörden nach der StPO:

Strafverfolgungsbehörden sind nach Art. 12 StPO die Polizei, die Staatsanwaltschaften und die Übertretungsstrafbehörden.

Die Polizei kann auf eigenen Antrieb Straftaten verfolgen, aber auch auf Anzeige von Privaten hin tätig werden. Vor allem aber wird sie tätig auf Auftrag der Staatsanwaltschaft; dabei untersteht sie deren Aufsicht und Weisungsbefugnis (Art. 15 StPO).

Die Staatsanwaltschaft leitet das Vorverfahren, verfolgt Straftaten im Rahmen der Untersuchung, erhebt Anklage und vertritt diese vor Gericht (Art. 16 StPO). Diese Funktionen dürfen von den Kantonen auf eine Staatsanwaltschaft und eine Oberstaatsanwaltschaft mit Aufsichtsfunktionen verteilt werden, die gelegentlich auch als Generalstaatsanwaltschaft bezeichnet wird (Art. 14 StPO). So kann die Einstellung eines Strafverfahrens z.B. von der Zustimmung der Ober- oder Generalstaatsanwaltschaft abhängig gemacht werden oder die Vertretung der Anklage im Berufungsverfahren kann dieser Aufsichtsbehörde übertragen werden.

Übertretungsstrafbehörden dürfen nach Art. 17 StPO von den Kantonen eingesetzt werden, aber nur Übertretungen verfolgen und beurteilen, die isoliert, also nicht zusammen mit Verbrechen oder Vergehen (vgl. Art. 10 StGB) verfolgt werden müssen (Art. 17 Absatz 2 StPO). Übertretungen sind jene Delikte, die nur mit Busse bestraft werden dürfen (Art. 103 StGB). Das Stadtrichteramt der Stadt Zürich ist ein bekanntes Beispiel für eine solche Verwaltungsbehörde, obwohl der Name auf richterliche Funktionen hindeutet.

 

Die Gerichte nach der StPO:

Die Kantone müssen ein Zwangsmassnahmengericht einsetzen, das immer dann für die Anordnung oder Genehmigung von Zwangsmassnahmen zuständig ist, wenn die StPO das vorsieht. Mitglieder dieser Gerichte dürfen nicht im gleichen Falle an der Beurteilung der Straftat mitwirken (Art. 18 StPO).

Erstinstanzliche Gerichte beurteilen alle Straftaten, für die nicht andere Behörden zuständig sind. Ihre Funktion kann von den Kantonen bei Übertretungen oder wenn die Staatsanwaltschaft eine Freiheitsstrafe von nicht mehr als zwei Jahren beantragt auf Einzelgerichte übertragen werden (Art. 19 StPO).

Vorsehen müssen die Kantone eine Beschwerdeinstanz und eine Berufungsinstanz (Art. 20 StPO). Auch hier gilt, dass Mitglieder einer Beschwerdeinstanz nicht im gleichen Fall als Mitglied einer Berufungsinstanz tätig sein dürfen (Art. 21 StPO).

 

Die Bedeutung der StPO für die Strafbehörden:

Im Entwurf des Bundesrates für die Strafprozessordnung sah Art. 2 vor, die Strafrechtspflege stehe einzig den vom Gesetz bestimmten Behörden zu, und Strafverfahren dürften nur in den vom Gesetz vorgesehenen Formen durchgeführt und abgeschlossen werden (BBl 2006 1389, Seite 1389).

Die im Entwurf vorgeschlagene Formulierung ist Gesetz geworden (vgl. Art. 2 StPO) und wird in der Botschaft des Bundesrates wie folgt erläutert:

«Artikel 2 statuiert das Strafjustizmonopol des Staates. Die Strafjustiz ist allein Angelegenheit des Staates. Sie kann nicht durch Vereinbarung an Private delegiert werden. Strafverfahren unterliegen dem Grundsatz der Formstrenge. Sie dürfen deshalb nicht informell, beispielsweise durch Abschreibung mittels Aktenvermerk, erledigt werden. Es stehen nur die dafür im Gesetz vorgesehenen Möglichkeiten zur Verfügung, namentlich die Sistierung oder Einstellung (Art. 314 und 320ff.), die Anklageerhebung (Art. 325ff.) oder der Strafbefehl (Art. 355ff.)» (BBl 2006 1085, Seite 1228).

Damit wird die StPO mit ihren darin vorgegebenen Abläufen und festgelegten Kompetenzen zu einem Gesetz, von dem auch im Einverständnis der betroffenen Parteien nicht abgewichen werden darf.

 

 

Zürich, 07. Juni 2023 / T. Gattlen

[1] BBl 2006 1085, Seite 1116
[2] BBl 2006 1085, Seite 1087
[3] BBl 2006 1085 Seiten 1104/1105
[4] BBl 2006 1085 Abschnitt 1.5.2.2 Seiten 1105/1106
[5] BBl 2006 1085, Seite 1134
[6] BBl 2006 1085, Seite 1134/1135/1136