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Blog 30: November 2023

StPO von A-Z: Verfolgungszwang – ein Grundsatz mit Einschränkungen

Der Randtitel von Art. 7 StPO lautet: «Verfolgungszwang». Bereits Art. 8 StPO aber trägt den Randtitel «Verzicht auf Strafverfolgung». Beide Bestimmungen finden sich im 2. Kapitel mit dem Titel «Grundsätze des Verfahrensrechts».

Dieser Beitrag untersucht, was die StPO unter Verfolgungszwang versteht und welche Einschränkungen der Grundsatz bereits in der StPO erfährt.

Der Verfolgungszwang

Das Strafverfahren ist geprägt vom Untersuchungsgrundsatz. Er findet sich in Art. 6 StPO. Demnach klären die Strafbehörden von Amtes wegen alle für die Beurteilung der Tat und der beschuldigten Personen bedeutsamen Tatsachen ab.

Damit wird gesagt, wie die Strafbehörden zu arbeiten haben, wenn sie eine Strafuntersuchung führen. Keine Anweisung aber enthält die Bestimmung zur Frage, ob und unter welchen Bedingungen eine Strafuntersuchung überhaupt geführt werden darf oder muss. Diese Regelung findet sich in Art. 7 der Strafprozessordnung. Sie formuliert einen Auftrag an die Strafbehörden und lautet:

 

Art. 7 Verfolgungszwang

1 Die Strafbehörden sind verpflichtet, im Rahmen ihrer Zuständigkeit ein Verfahren einzuleiten und durchzuführen, wenn ihnen Straftaten oder auf Straftaten hinweisende Verdachtsgründe bekannt werden.

2 Die Kantone können vorsehen, dass:

  1. die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Mitglieder ihrer gesetzgebenden und richterlichen Behörden sowie ihrer Regierungen für Äusserungen im kantonalen Parlament ausgeschlossen oder beschränkt wird;
  2. die Strafverfolgung der Mitglieder ihrer Vollziehungs- und Gerichtsbehörden wegen im Amt begangener Verbrechen oder Vergehen von der Ermächtigung einer nicht richterlichen Behörde abhängt.

 

Schon Absatz 2 von Art. 7 StPO gibt also den Kantonen das Recht, durch die kantonale Gesetzgebung die Verfolgung von Straftaten, die durch Äusserungen von Mitgliedern des kantonalen Parlaments, der kantonalen Regierung oder der kantonalen richterlichen Behörden begangen sein könnten, zu unterbinden oder zu beschränken. Sie können z.B. die Ermächtigung von kantonalen Behörden für die Verfolgung solcher Straftaten verlangen. Die Kantone dürfen darüber hinaus auch die Strafverfolgung gegenüber Mitgliedern ihrer exekutiven oder richterlichen Behörden für im Amt begangene Verbrechen oder Vergehen von der Ermächtigung durch eine kantonale Behörde abhängig machen. Der Grundsatz von Art. 7 Absatz 1 wird also bereits in Absatz 2 der gleichen Bestimmung eingeschränkt.

Art. 7 des Entwurfs des Bundesrates, wie er den eidgenössischen Räten vorgelegt wurde [1], enthielt bereits die Gesetz gewordene Formulierung; nur Absatz 2 lit. b. wurde so abgeändert, dass er nicht nur auf die Mitglieder der obersten Vollziehungs- und Gerichtsbehörden anwendbar sein sollte, sondern auf alle Mitglieder von Vollziehungs- und Gerichtsbehörden.[2]

Seinen Vorschlag begründete der Bundesrat in der «Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts» vom 21. Dezember 2005 [3] im Rahmen der Erläuterungen zu Art. 7 des Entwurfs:

«Die Schweizerische Strafprozessordnung soll, wie grundsätzlich alle zurzeit geltenden schweizerischen Strafprozessgesetze, dem Offizialprinzip verpflichtet sein: Die Strafverfolgung ist Sache des Staates, und die Strafbehörden müssen den staatlichen Strafanspruch von Amtes wegen, unabhängig von Strafklagen der privaten Betroffenen, durchzusetzen. Artikel 7 Absatz 1 statuiert das mit diesem Prinzip eng verknüpfte strafprozessuale Legalitätsprinzip. Dieses verpflichtet die Strafverfolgungsbehörden, bei genügendem Tatverdacht für alle ihnen zur Kenntnis gelangenden Straftaten ein Verfahren zu eröffnen, dieses durchzuführen und bei bestätigtem Verdacht mit einer Anklage zur gerichtlichen Beurteilung zu bringen.

Absatz 2 übernimmt im Wesentlichen Artikel 347 Absatz 2 nStGB142. In einem weiteren Sinn geht es sowohl bei Buchstabe a (Einschränkung oder Aufhebung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für Äusserungen im kantonalen Parlament) wie auch bei Buchstabe b (Strafverfolgung der obersten Gerichts- und Vollziehungsbehörden nur nach Ermächtigung durch eine nicht richterliche Behörde) um Hindernisse der Strafverfolgung. Diese Gemeinsamkeit rechtfertigt es, wie bisher beide Konstellationen in einem Gesetz zu regeln. In der Sache weicht die vorgeschlagene Regelung in Buchstabe a nur in einem Punkt von der Bestimmung des StGB ab: Neben den gesetzgebenden Behörden sollen auch die Regierung und die richterlichen Behörden einbezogen werden. Die Änderung trägt dem Umstand Rechnung, dass auch diese Behörden aufgerufen sein können, Aussagen im Parlament zu machen. Im Übrigen umfasst die Bestimmung wie bisher neben Äusserungen im Parlament auch solche in parlamentarischen Kommissionen. (…)» .[4]

Der Vorschlag des Bundesrates ist Gesetz geworden; die Überlegungen in der Botschaft sind daher massgebend. Es gehört zu den Grundsätzen der Gewaltenteilung, dass Mitglieder von Parlamenten für Äusserungen in den Beratungen von der Strafverfolgung ausgenommen werden können; die Legislative wird so vor Übergriffen der der Exekutive unterstehenden Strafverfolgungsbehörden geschützt. Die Ausdehnung des Schutzes auf Mitglieder der obersten Gerichte und der Regierung, erscheint nachvollziehbar. Bemerkenswert ist allerdings, die Tatsache, dass den Kantonen erlaubt wurde, alle Mitglieder ihrer Behörden vom Verfolgungszwang auszunehmen, indem sie die Strafverfolgung von einer Ermächtigung abhängig machen können.

 

Verzicht auf Strafverfolgung

Art. 8 StPO erlaubt es den Strafbehörden auf eine Strafverfolgung zu verzichten, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Die Bestimmung lautet:

 

Art. 8 Verzicht auf Strafverfolgung

1 Staatsanwaltschaft und Gerichte sehen von der Strafverfolgung ab, wenn das Bundesrecht es vorsieht, namentlich unter den Voraussetzungen der Artikel 52, 53 und 54 des Strafgesetzbuches (StGB).

2 Sofern nicht überwiegende Interessen der Privatklägerschaft entgegenstehen, sehen sie ausserdem von einer Strafverfolgung ab, wenn:

  1. der Straftat neben den anderen der beschuldigten Person zur Last gelegten Taten für die Festsetzung der zu erwartenden Strafe oder Massnahme keine wesentliche Bedeutung zukommt;
  2. eine voraussichtlich nicht ins Gewicht fallende Zusatzstrafe zu einer rechts-kräftig ausgefällten Strafe auszusprechen wäre;
  3. eine im Ausland ausgesprochene Strafe anzurechnen wäre, welche der für die verfolgte Straftat zu erwartenden Strafe entspricht.

3 Sofern nicht überwiegende Interessen der Privatklägerschaft entgegenstehen, können Staatsanwaltschaft und Gerichte von der Strafverfolgung absehen, wenn die Straftat bereits von einer ausländischen Behörde verfolgt oder die Verfolgung an eine solche abgetreten wird.

4 Sie verfügen in diesen Fällen, dass kein Verfahren eröffnet oder das laufende Verfahren eingestellt wird.

 

Artikel 8 des Entwurfs des Bundesrates entspricht mit wenigen formellen Abweichungen dem beschlossenen Gesetz. [5] Die Überlegungen dazu können daher aus der Botschaft des Bundesrates übernommen werden.

Art. 8 des Entwurfs wird in der Botschaft wie folgt kommentiert: «Die chronische Überlastung der Strafbehörden wie auch eine Rückbesinnung auf den Verhältnismässigkeitsgrundsatz haben in jüngerer Vergangenheit dazu geführt, den Verfolgungs- und Anklagezwang einzuschränken. An die Stelle des Legalitätsprinzips tritt mehr und mehr das Opportunitätsprinzip. Der Entwurf folgt dieser Entwicklung. Er übernimmt zwar kein unbeschränktes Opportunitätsprinzip, wie es heute in einzelnen kantonalen Prozessordnungen enthalten ist und welches den Strafbehörden allgemein erlauben würde, nach ihrem Gutdünken auf eine Strafverfolgung zu verzichten. In Übereinstimmung mit der Expertenkommission wird vielmehr ein gemässigtes Opportunitätsprinzip vorgeschlagen, wie es bereits in der Mehrzahl der Kantone in der einen oder anderen Form bekannt ist.

Absatz 1 verweist zunächst auf Opportunitätsgründe, die bereits heute im materiellen Bundesrecht enthalten sind, und nennt als wichtigste Anwendungsfälle die Artikel 52–54 nStGB. Absatz 2 lässt einen Verzicht auf das Legalitätsprinzip in vier weiteren Konstellationen zu. (…) Anders als bei den Gründen nach Absatz 1 ist in diesen Fällen ein Verzicht nur zulässig, wenn nicht überwiegende Interessen der Privatklägerschaft entgegenstehen.» [6]

Eine besondere Möglichkeit der Einstellung eines Verfahrens sieht überdies Art. 319 Absatz 2 StPO vor: Liegt es nämlich im Interesse des Opfers, das weniger als 18 Jahre alt ist, dann kann ein Strafverfahren unter Umständen eingestellt werden, sofern das Opfer zustimmt. In diesem Falle werden die Interessen eines Opfers stärker gewichtet als der staatliche Strafanspruch. Die Überlegung dahinter ist, dass das Opfer von einem Strafverfahren traumatisiert werden könnte. Darin liegt eine nicht unbedeutende Ausnahme vom Verfolgungszwang.

Art. 8 StPO befasst sich mit dem Opportunitätsprinzip im Strafprozessrecht. Er bildet gewissermassen den Gegenspieler von Art. 7 StPO. Es weicht den in Art. 7 StPO verankerten Verfolgungszwang jedoch auf. Das Gesetz steht also auf dem Boden des Verfolgungszwangs, mildert diesen aber in wesentlichem Masse. Das sich so ergebende gemässigte Opportunitätsprinzip entspricht den Absichten des Gesetzgebers.

 

Schlussfolgerung:

Die Art. 7 (Verfolgungszwang) und 8 (Verzicht auf Strafverfolgung) StPO dürfen nicht isoliert betrachtet werden, sondern sind in ihrer Wechselwirkung zu verstehen und geben einem gemässigten Opportunitätsprinzip Ausdruck.

Demnach verlangt die Strafprozessordnung von den Strafbehörden also nicht, dass sie jede Straftat verfolgt, sondern sie den Verzicht auf Strafverfolgung unter den im Gesetz festgelegten Bedingungen.

Darüber hinaus muss die Strafbehörde unter Umständen auf eine Strafverfolgung aufgrund kantonalen Rechts verzichten, wenn das kantonale Recht die Strafverfolgung für Äusserungen in den kantonalen Parlamenten oder für strafbare Handlungen von kantonalen Angestellten oder Beamten von der Ermächtigung einer Behörde abhängig macht und diese nicht zu bekommen ist.

 

Zürich, 1. November 2023 / T. Gattlen

[1] BBl 2006 1389
[2] vgl. BBl 2006 1989, Seite 1390, Artikel 7 Absatz 2 lit. b
[3] BBl 2006 1085
[4] BBl 2006 1085, Seiten 1130/1131
[5] BBl 2006 1389, Seiten 1390/1391, Art 8 des Entwurfs
[6] BBl 2006 1085 Seite 1130-1132